Das Eulentor
mächtige Brustkorb der Männer senkte sich, als atmeten sie erleichtert auf. Während sich der Rauch aus dem Revolverlauf kräuselte, starrte Rönne apathisch auf das Loch im Boden. Seine eigene Waffe hatte ihn auserwählt. Schweigend erhoben sich die anderen Erdfahrer. Der Reihe nach klopften sie Rönne auf die Schulter und verließen das Kasino. Als Marit an mir vorüberging, die Kappe tief ins Gesicht gezogen, blickte sie mich kurz an. Das Flehen in ihren Augen war nicht zu übersehen.
Als die Tür zufiel, war ich mit Rönne allein. Ich zog einen Stuhl heran und setzte mich dem jungen Deserteur gegenüber. Das blonde, dreckverschmierte Haar hing ihm in fettigen Strähnen in die Stirn. Unrasiert wirkte er älter, als er tatsächlich war.
»Das Projekt ist beendet. Hansen hat nichts mehr zu befehlen«, sagte ich auf Norwegisch. Um meine Worte zu unterstreichen, legte ich die Lohntüte mit Rönnes Restgeld auf den Tisch. Dieser betrachtete sie nicht einmal.
»Ich möchte nicht so enden wie Brehm«, murmelte er in gebrochenem Deutsch. »Aber wenn Hansen geht, gehe ich auch – Gott stehe uns bei!«
Das Blut wich aus meinen Händen. Plötzlich waren meine Finger eiskalt, als hätte ich sie in den Schnee getaucht. »Seien Sie vernünftig. Brehm ist tot, unsere Arbeit ist beendet. Es wird Untersuchungen geben, Fachleute werden kommen, man wird Brehm exhumieren, ihn untersuchen und …«
»Ich habe verloren.« Rönne sah kurz auf, danach blickte er auf die Waffe in seinen Händen.
»Falls Sie runtergehen, werden Sie genauso sterben wie er!« prophezeite ich ihm. Doch konnte man jemandem ernsthaft drohen, der sein Leben bereits verspielt hatte?
Rönne erhob sich wortlos, stopfte sich den Revolver in den Hosenbund und verließ das Kasino. Seine Lohntüte ließ er auf dem Tisch liegen. Dort, wohin er gehen wollte, würde er kein Geld mehr brauchen.
*
Ich lag die halbe Nacht wach. Zum ersten Mal seit meiner Anwesenheit auf der Insel hörte ich das kratzende Geräusch des Schleifsteins, ein ständiges monotones auf und ab, das mir den Schlaf raubte. Die Klinge von Rönnes Bajonett mußte bereits so scharf sein, daß man damit mühelos ein Blatt Papier spalten konnte. Wie gespenstische Klänge geisterten die Geräusche durch die Station, drangen von Raum zu Raum, bis tief in mein Gehirn, wo sie sich einnisteten, während draußen der Sturm um die Station heulte.
Es war ein Fehler gewesen, Rönne die Waffe zu lassen. Ich hätte ihm den Revolver im Kasino abnehmen sollen. Der Narr konnte weiß Gott was damit anrichten. Gleich morgen früh würde ich sie und das Bajonett in einem Schrank versperren und den Schlüssel im Schloß abbrechen. Wie es aussah, blieb mir keine andere Wahl. Im Moment erinnerte mich die Stimmung unter den Erdfahrern an einen Schmelztiegel, der auf dem Siedepunkt angelangt war. Andererseits verstand ich Marit und die Männer nur zu gut. Für sie war dieser Schacht ein Rettungsanker, ein Auffangbecken für gestrandete Existenzen. Niemand würde einem Deserteur, einem Alkoholiker, einem Krüppel oder einem Mädchen, das lieber bei Hunden als in einem Bett schlief, eine ordentliche Arbeit anbieten. Ohne diese Aufgabe waren sie verloren. Marit konnte unmöglich nach Hammerfest zurückkehren. Wohin sollte sie gehen? Was sollten die Männer tun? Sich bei der Marine verpflichten oder auf einem russischen Fischkutter anheuern? Die waren zum Bersten voll mit Matrosen, die für die Hälfte des Lohns arbeiteten, den sie hier erhielten. Dennoch durften sie die Fahrten in den Schacht und dessen Ausbau nicht mit Gewalt fortsetzen. Bevor es dazu kam, würde ich beide Gondeln absprengen.
Als mir immer öfter für mehrere Sekunden die Augen zufielen, bemerkte ich im Halbschlaf, daß das Schleifen verstummt war. Eine angenehme Ruhe empfing mich. Doch plötzlich riß mich ein Schuß aus dem Dämmerschlaf. Ich saß kerzengerade im Bett und lauschte. Hatte ich mir den Krach eingebildet? Nein, draußen bellten die Hunde. Der Schuß hatte sie geweckt. Durch den Türschlitz sah ich, wie jemand im Gang eine Petroleumlampe entzündete. Während ich in den Morgenmantel schlüpfte, tastete ich mich an der Wand entlang zur Tür. Gjertsen stand mit der Lampe im Gang. Eben kamen Björn und Nilsen aus dem Kasino. Als nächstes humpelte Hansen auf seinen Krücken herbei. Im selben Moment flog die Tür auf und Marit stürzte von draußen herein. Schnee wehte in die Station. Schlaftrunken rieb sie sich die Augen. Zum
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