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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Strang, die Guillotine oder der Schacht – der Tod erwartet mich, so oder so.«
    Plötzlich kam wieder der unerklärliche Luftzug von oben. Rasend zog er den Schwefelgestank nach unten, ließ mich mit der Leiter hin- und herbaumeln und um die eigene Achse rotieren.
    »Spürst du das?« rief Hansen.
    Ich antwortete nicht, sondern klammerte mich fester an die Sprossen.
    »Der Schacht lebt. Er inhaliert uns, er saugt uns aus, unseren Willen, unsere Kraft. Brehm bezeichnete den Luftzug als den Odem des Teufels. Sobald er einatmet, verschwindet der Schwefelgestank. Es ist wie im Inneren einer gigantischen Luftröhre. Die Frage ist bloß, wohin sie führt? Kannst du es dir denken?«
    »Brehm ist verrückt geworden – und wir werden die Wahrheit niemals herausfinden.«
    »Es gibt keine andere Möglichkeit. Man muß verrückt werden, um den Sinn des Schachts zu verstehen«, widersprach Hansen.
    »Komm mit mir nach oben!«
    »Ich sagte bereits, es ist zu spät. Für mich gibt es kein Zurück mehr. Die Haut zwischen den Fingern fühlt sich anders an … die Kopfhaut, meine Haare, der Druck in den Augen …« Hansens Stimme versagte. »Es zieht mich hinab«, preßte er mit kehliger Stimme hervor. »Wenn du lange genug hier unten verbracht hast, spürst du es auch. Bald habe ich das letzte Geheimnis des Schachts gelöst. Ich gehe auf Maximaltiefe! Lebe wohl …«
    Ich hörte, wie Hansen den Hebel umlegte. Die Zahnräder begannen zu klicken. Die Geräusche breiteten sich mit einem merkwürdigen Hall im Schacht aus.
    »Nein!« schrie ich. »Tu es nicht!« Ich hatte mit dem Fuß die letzte Sprosse der Strickleiter erreicht. Haltlos baumelte ich zwischen den Schachtwänden und berührte sogar mit dem Hemdsärmel das zähe Pech.
    Mit jedem Klicken der Zahnräder bewegte sich Hansens Gondel weiter in die Tiefe.
    »Stopp es!«
    Die verschiedenen Echos überschlugen sich. Inmitten der Kakophonie glaubte ich, die Klänge des Banjos zu hören. Sekunden später entfernten sich die Geräusche mit einer rasenden Geschwindigkeit. In der Dunkelheit waren sprühende Funken zu erkennen. Die Plattform mit dem Dieselmotor und der gesamten Gondel stürzte ungebremst in den Schacht. Auf Maximaltiefe!
    Mit einem Mal setzte der Luftzug aus. Plötzlich war der Schwefelgestank wieder präsent, als schicke Hansen einen letzten Gruß aus der Tiefe empor.
    »Du Idiot! Du verfluchter Idiot!« Ich wollte mir die Seele aus dem Leib brüllen, doch meine Stimme versagte. Schluchzend klammerte ich mich an die Leiter. Ich wußte, wir hätten es bis zur Oberfläche schaffen können. Doch so kurz vor der Fahrt nach oben gab Hansen auf. Der Sturkopf lehnte es ab, sich helfen zu lassen! Warum wollte er nicht leben? Am meisten ärgerte mich, daß alles umsonst gewesen war. Wir hätten es schaffen können, und trotzdem war der verfluchte Walfänger hinabgetaucht. Sollte er doch zur Hölle fahren! Für einen Moment überlegte ich, ob ich nicht einfach die Hände öffnen und mich selbst fallen lassen sollte.
    Die Minuten vergingen, in denen ich in der Leiter hing und keinen Aufprall hörte. Ich würde auch nie einen zu hören bekommen, dessen war ich mir sicher. Der Schacht war einfach zu tief. Da riß mich ein Geräusch aus den Gedanken. Mein Herz machte einen Satz. Gehetzt blickte ich nach oben. Zunächst dachte ich, die Strickleiter trenne sich auf oder löse sich aus der Verankerung, doch dann hörte ich, wie die Töne aus der Tiefe empordrangen. Sie klangen wie das Rauschen eines näherkommenden Sturms. Aus der Dunkelheit bewegte sich ein Schimmer spiralförmig zu mir herauf, als laufe er in Kreisen an der Felswand nach oben. Der dichte Nebel rotierte immer höher. Die Schwärze unter mir verfärbte sich in ein häßliches Dunkelgrün. Schließlich erfaßte mich die Druckwelle und lief wie ein Sturm aus mikroskopisch kleinen Partikeln durch mich hindurch. Die Schattenwellen! Ein Gefühl erfaßte mich, als würde mein Herz zusammengequetscht, mein Brustkorb eingedrückt – als verformten sich meine Rippen und inneren Organe, als würde mein Körper von innen nach außen gestülpt. Mit einem Mal hatte ich das Gefühl, als kehrten sich meine Fingergelenke in die andere Richtung. Plötzlich war alles verschoben. Unter unsäglichen Schmerzen stieg ich Sprosse für Sprosse nach oben. Keine Ahnung, wie lange ich noch bei Bewußtsein bleiben würde. Ich mußte so schnell wie möglich die Plattform erreichen.
    Der grüne Schimmer aus der Tiefe spendete ein wenig Licht.

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