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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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sich um mich zu drehen. Ich kniff die Augen zusammen und klammerte mich an die Strickleiter. Es würde vorübergehen, sagte ich mir. Ich durfte nur nicht ohnmächtig werden. Nicht, solange ich über dem Abgrund hing.
    Als es wieder still wurde, öffnete ich die Augen. In diesem Moment hörte ich das Banjo. Die Saiten klangen blechern. Die Laute hallten schaurig durch den Schacht, überschlugen sich und formten sich zu etwas, das ich noch nie gehört hatte. Es war keine Melodie, sondern eine Aneinanderreihung von schrecklichen Tönen, die sogar einem hart gesottenen Mann Angst einflößen würden.
    »Jan!« brüllte ich. »Hör auf!«
    »Hör auf!« antwortete Hansen nach einer Weile. Doch es war nicht die rauhe Stimme des Walfängers – dafür klang sie zu hell. Es war das Echo meines eigenen Rufs, das zu mir heraufdrang, als würde der Schacht mir antworten.
    Augenblicklich verstummte das Banjospiel. Als die letzten Töne verklangen, hörte ich Hansens Ruf. »Du hast den Hebel der Dieselzufuhr verloren… verloren … verloren … verloren …« Das Echo hallte durch den Schacht. »Wie wirst du wieder nach oben kommen?«
    »Mach dir um mich keine Sorgen!« rief ich.
    »Warum bist du mir gefolgt?«
    »Wir können in meiner Gondel nach oben fahren. Wir müssen nur einen Weg finden, wie du …«
    »Zu spät!« rief Hansen.
    »Es ist nicht zu spät. Du kannst mit deiner Gondel zu mir rauffahren und umsteigen.«
    »Ich habe keinen Dieselvorrat an Bord – ebenso wenig wie du.«
    »Ich habe genug Treibstoff«, widersprach ich. »Wir finden einen Weg.«
    »Zu spät …« Es klang wie ein Flüstern. Plötzlich ertönte wieder das Banjospiel.
    »Hörst du das?« brüllte Hansen. »Der Schacht spricht zu mir. Er interpretiert die Geräusche auf seine eigene Art und Weise. Wenn man lange genug zuhört, erkennt man das Muster.«
    »Ich habe zwei volle Dieselfässer, wir könnten …«
    »Du hörst mir nicht zu! Ich weihe dich in das Geheimnis des Schachts ein, und du redest über ein blödes Dieselfaß!« Hansen machte eine Pause. »Hast du überhaupt eine Ahnung, wo wir uns hier befinden? Nenne es die Van Hansen-Zone, nenne es von mir aus die Berger-Zone … es ist vollkommen egal. Aber es ist eine Zone. Ein Bereich, und er beginnt hier. Einen Meter unter meiner Gondel hören die Gleise auf. Das ist der Eingang zu einer völlig neuen Welt. Sie führt unendlich weit hinab. Brehm hat Dynamitstangen abgeworfen, die erst nach zehn Minuten zünden. Trotzdem haben wir nicht einmal annähernd das Ende des Schachts ausforschen können. Du hast dich doch immer gefragt, weshalb der Durchmesser des Schachts exakt der Zahl Pi entspricht.« Hansen machte eine Pause, wartete jedoch keine Antwort ab. »Ich kann es dir verraten. Ich verstehe seinen Sinn, denn die Tiefe des Schachts hat mich geläutert. Der Abgrund ist unendlich – er hört niemals auf, er reicht bis in alle Ewigkeit.«
    »Das ist unmöglich«, unterbrach ich ihn. »Dieser Schacht wurde von jemandem gebaut, und …«
    »Du irrst dich, er hat schon immer existiert.«
    »Das ist doch Blödsinn!« Ich durfte nicht zulassen, daß Hansen den Verstand verlor. Am Ende packte ihn noch der Tiefenrausch. Während ich langsam an der Strickleiter nach unten kletterte, um Hansen näherzukommen, sprach ich weiter. »Mach deinen Motor an, steuere die Gondel nach oben, danach können wir reden …«
    »Du willst mit mir reden, dabei hörst du mir nicht einmal zu!« Hansens Stimme klang aufgewühlt. »Brehm hat mehrere Tage hier unten verbracht. Er kannte das Geheimnis des Schachts, aber es hat ihn in den Wahnsinn getrieben. Ich spüre, wie es an mir zehrt. Der Schacht saugt mir das Leben aus, er reißt mir die Seele aus dem Leib. Bevor es mit mir zu Ende geht, fahre ich mit der Gondel ganz hinunter. Ich will alles erfahren, die gesamte Wahrheit.«
    »Nein!« Meine Glieder zitterten. Bald würde ich einen Krampf im Oberarm und in den Beinen bekommen. Mittlerweile hing ich ungefähr zehn Meter unter der Gondel. Das Licht der Petroleumlampe schimmerte durch die Ritzen der Holzbretter und spiegelte sich im funkelnden Schwarz der Schachtwand, wo es sich nach wenigen Metern verlor. Darunter lag absolute Dunkelheit.
    »Wir können gemeinsam nach oben zurückkehren.«
    »Ich habe Björn getötet. Falls ich raufkomme, erwartet mich ein Gericht, das mich zum Tode verurteilt.«
    »Nein«, log ich. »Ich lege ein gutes Wort für dich ein.«
    »Du warst noch nie ein überzeugender Lügner. Ob der

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