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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Ich kann dich nicht gehen lassen.
    Nach diesen Worten drehte die Gestalt den Kopf um zweihundertsiebzig Grad. Es war anatomisch unmöglich, genauso unmöglich, wie ein Mensch einen kilometerlangen Schacht mit bloßen Händen emporkriechen konnte. Dennoch knirschten die morschen, verdorrten Halswirbel vor meinen Augen, daß mir übel wurde. Mit einem bis zur Unkenntlichkeit verrenkten Kopf starrte mich die Kreatur aus leeren Augenhöhlen an.
    Ich bin hier, um dich aufzuhalten, du elender Menschensohn!
    »Friede deiner Seele!«
    Ich drückte ab. Der Revolver hustete. Die Trommel drehte sich weiter, doch aus dem Lauf drang nur eine schwache Rauchwolke. Ich drückte noch einmal ab. Da schlug mir der Rückstoß der Waffe ins Handgelenk. Ich hatte die Gestalt am Kopf getroffen, der ruckartig zur Seite zuckte. Wegen des Krachs erhob sich die Eule in die Lüfte. Doch die Kreatur blieb unerschütterlich stehen.
    Du begreifst es nicht!
    »Oh doch!«
    Ich drückte weiter ab, feuerte wie verrückt, schoß einmal daneben, aber traf die Gestalt in die Brust, in die Hüfte, bis ich schließlich ein metallenes Ping hörte. Ich hatte die Gasflasche auf dem Schlitten getroffen. Als ich den Querschläger hörte, sah ich gleichzeitig den Funken. Er reichte aus, die Flasche zum Explodieren zu bringen. Obwohl ich am weitesten entfernt stand, riß mich die Druckwelle von den Beinen, und ich landete rücklings im Schnee. Die Fenster der Hütte zersplitterten.
    Die Kreatur, welche von der Detonation voll erfaßt wurde, kreischte verbittert auf. Flammen züngelten an den ausgedörrten Fetzen empor, fraßen sich prompt in das trockene Fleisch, erfaßten die Haare und verwandelten das Geschöpf in eine lebende Fackel. Über uns zog die Eule ihre Bahnen und stieß ihre verzweifelten Schreie aus.
    Das Feuer loderte immer heller. Ich hörte es knacken und knirschen, und ich glaubte sogar, inmitten der Flammen schwarzes Fleisch auf den Boden tropfen zu sehen, als würde die Haut Blasen schlagen. Das Wesen kreischte erbärmlich auf, bis es auf die Knie sank und mit den Armen in wilden Bewegungen um sich schlug. Ich lief daran vorbei in die Hütte. Scherben lagen auf dem Boden, doch Marit und der Husky waren unversehrt geblieben.
    Als ich wieder ins Freie trat, war nur noch ein zuckender, verkrümmter Haufen auf dem geschmolzenen Schnee zu sehen, der unmenschliche Laute von sich gab. Ich nahm Christiansons Walfischknochen vom Hals und betrachtete den Talisman. Letztendlich wußte ich nicht, ob er mir Glück gebracht hatte oder nicht. Immerhin war ich am Leben, doch um welchen Preis?
    Schließlich warf ich ihn in die Flammen. »Ruhe in Frieden, mein Freund. Möge Gott deiner Seele gnädig sein.«
    Stunden später war Christianson endlich tot. Als ich mit Tränen in den Augen aufblickte, die mir der Sturm sogleich auf den Wangen gefrieren ließ, erkannte ich die Segel der Skagerrak im Fjord.

 
EPILOG
     
     
    A m Abend des nächsten Tages stand ich abfahrbereit am Bug der Skagerrak, die in der Walroßbucht vor Anker lag. Ich strich mit den Fingern über das Holz der Reling, wo ich einst das Datum meiner ersten Spitzbergenreise mit dem Klappmesser in die Bohle geritzt hatte. Mittlerweile war die von Wind und Regen verwaschene Gravur nur noch zu finden, wenn man genau wußte, wo man suchen mußte. So viele Jahre und Monate waren vergangen, und was hatten wir erreicht? Ich blickte zur Teufelsebene, von der immer noch dünner Rauch aufstieg.
    Die Wellen schlackerten unermüdlich gegen den Schiffsrumpf. Soeben drang das letzte Klicken der Ankerkette über das Deck. Der Wind blähte die Segel, daß die Leinwand über meinem Kopf wie eine Reitpeitsche knallte. Rund um mich knarrten die Seile. Die Matrosen riefen sich gegenseitig Kommandos zu, doch das alles bekam ich nur am Rande mit. Ich senkte den Blick und starrte zum Ufer, wo sich ein schwarzer, kreisrunder Fleck in den Boden gebrannt hatte, über den der Wind fegte, als wolle er jegliche Spuren verwischen.
    Als die Sonne aus der Wolkendecke hervorbrach und das Bergmassiv in ein violettes Licht tauchte, löste ich mich von der Reling und ging zum Heck des Schiffs. Der Husky folgte mir. Ich hüllte mich in eine Decke, die mir ein Matrose reichte, und setzte mich auf eine Truhe mit in Salz eingelegten Heringen. Roy saß neben mir. Wir starrten aufs Meer hinaus. Der Wind zerzauste mein Haar, und der Hund kniff die Augen zusammen, als genieße er das Wetter. Kaum daß sich die Segel blähten, wendete die

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