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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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nichts weiter als Ruhe. Das Morphium bescherte ihr einen tiefen Schlaf. Möglicherweise begann sie bald zu fiebern. An kalten Umschlägen für ihre Stirn mangelte es in dieser Schneelandschaft nicht. Auch nicht an der nötigen Wärme. Ich deckte sie zusätzlich mit der Zeltplane zu und hockte mich neben sie. Als wolle Roy sie ebenfalls wärmen, legte er sich neben Marit und bettete seine Schnauze neben ihr Gesicht.
    Stunden später waren die Scheiben durch das Kondenswasser unseres Atems innen angeeist. Ich hatte ein Guckloch in das Glas gewischt, wodurch ich zum Plateau hinaufsah. Die Explosionen hatten ein Ende gefunden. Mittlerweile wurde vom Wind eine immens hohe Rauchsäule in den Himmel getrieben, wo sie sich in Form eines Pilzes auflöste und am Horizont zerfaserte. Der Himmel wurde mehr und mehr mit Schwärze getränkt.
    Inzwischen war es Vormittag geworden, doch die Wolken verdeckten immer noch die Sonne, wodurch ein merkwürdiges Zwielicht die Bucht beherrschte. Zusätzlich heulte der Sturm um die Hütte und trieb immer wieder Schnee an die Scheibe. Während ich mit der rechten Hand versuchte, etwas in mein Tagebuch zu schreiben, ließ mich das Kreischen einer Schneeeule zusammenfahren. Als ich wieder zum Plateau hinaufsah, erstarrte mein Herzschlag für einen Augenblick. Eine hochgewachsene Gestalt stand an den Klippen. Sie war in schwarze, vom Körper hängende Fetzen gemummt, die vom Wind herumgewirbelt wurden. Reglos verharrte sie am Rand der Felswand. Aber ich hatte diesem Wesen das Bajonett so tief in den Bauch gerammt, daß es tot sein mußte. Dennoch stand es auf dem Plateau.
    Schließlich bewegte es sich auf die Serpentinen zu und begann mit langen Schritten seinen Abstieg in die Bucht. Eine eisige Kälte griff nach meinem Herzen. Wie gebannt starrte ich auf die Kreatur, die unbeeindruckt von Kälte oder Sturm Schritt für Schritt weiter hinabstieg. Sie hob sich von der Schneelandschaft wie ein schwarzer Schemen ab, begleitet von Stoffresten, die wie zerfetzte Bandagen im Wind wehten.
    Ich blickte aus dem anderen Fenster der Hütte in den Fjord. Kein Schiff war weit und breit zu sehen. Und selbst wenn ich jetzt die Segel entdecken würde, wären die Matrosen in frühestens einer Stunde hier. Was sollte ich tun? Die Hütte bot keinen ausreichenden Schutz. Hätte ich eine größere Chance, wenn ich Marit auf den Schlitten packen und versuchen würde, über das Eis zu fliehen? Ohne Schneeschuhe, nur begleitet von einem jungen Husky? Irgendwann würde mich das Wesen einholen – und dann hatten wir nicht einmal eine Hütte, um uns zu verbarrikadieren.
    Plötzlich schreckte Roy aus dem Schlaf und begann zu winseln. Ich starrte aus dem Fenster. Die Kreatur hatte die Bucht erreicht. Sie wanderte über das Eis und hielt geradewegs auf die Hütte zu. Deutlich konnte ich das Bajonett erkennen, das ihr seitlich aus dem Bauch ragte. Das riesige Exemplar einer Schneeeule, jenes blinde und verkrüppelte Tier, das ich zum ersten Mal vor drei Jahren in der Bucht gesehen hatte, hockte kreischend und flügelschlagend auf der Schulter des Wesens. Diese Mißgeburt von einem Vogel hatte uns bisher nur Unglück gebracht. Und nun steuerte diese Eule in inniger Verbundenheit mit dem schrecklichen Wesen aus dem Inneren der Erde auf uns zu.
    Rasch blickte ich noch einmal aus dem anderen Fenster. Kein Schiff! Ich würde mir selbst helfen müssen. Dazu brauchte ich eine Waffe. Aber auf dem Schlitten befand sich nichts, was ich zur Verteidigung hätte benutzen können – und den Revolver aus Rönnes Grab hatte ich im Schacht verloren. Woher sollte ich jetzt eine Waffe nehmen? Das Grab! Natürlich, das war es! Rasch wandte ich mich zur Tür. Da verstellte mir der Husky den Weg.
    »Keine Angst«, beruhigte ich den Hund. »Ich bin bald wieder zurück.«
    Ich knöpfte die Rentierjacke zu und verließ die Hütte.
    Sogleich empfing mich der Sturm und trieb mir Schneewehen ins Gesicht. Ich lief am Ufer entlang, bis ich den Steinhügel erreichte, in dem das einfache Holzkreuz steckte, das Hansen und ich vor Jahren aus den Brettern eines Schlittens gezimmert hatten. Nur noch undeutlich war das in den Querbalken geritzte Datum zu erkennen, der 17. November 1911. Darunter stand der Spitzname unseres ehemaligen Jägers und Hundeführers: Harpun. Er war das erste Opfer unserer Expedition gewesen. Wir hatten ihn mit jenen Utensilien begraben, die ihm am wichtigsten waren: Seiner Axt, mit der er den Robben das Fell über die Ohren gezogen

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