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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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hatte, und dem Revolver im wasserdichten Lederbeutel, den er stets stolz zur Schau gestellt hatte.
    Ich sank vor dem Steinhügel auf die Knie und begann, die von Wind und Wetter zerklüfteten Felsen beiseite zu wälzen. Mittlerweile hatten sich darunter so viel Sand, Kiesel und Algen angesammelt, daß die Steine zu einem festen Monument verschmolzen waren. Ich mußte einzelne Brocken regelrecht aus dem Gestein brechen. Wegen des gefrorenen Bodens hatten wir damals nicht besonders tief gegraben, weshalb ich schon bald auf die vermoderten Reste von Harpuns Jacke stieß. Ohne zu viele Gedanken daran zu verschwenden, daß ich erneut ein Grab schändete, um an eine Waffe zu gelangen, arbeitete ich weiter. Schließlich tauchte der braune Lederbeutel auf. Ich zerrte ihn aus dem verklumpten Sand und öffnete die Schnüre. Der Revolver mit sechs Schuß in der Trommel lag in meiner Hand. Ich konnte nur hoffen, daß mich die Waffe nicht im Stich lassen würde. Sicherheitshalber wollte ich auch die Axt aus dem Grab befreien, doch als ich sie am Stiel packte, um sie rauszuwinden, brach der Holzgriff ab. Zurück blieb ein nutzlos gewordenes Metallblatt.
    Mit der Waffe in der Hand richtete ich mich auf. Die in schwarze Fetzen gehüllte Gestalt mit den entsetzlich wirren Haaren hatte den Schuppen erreicht. Sie stand zwischen dem Schlitten und der Eingangstür. Noch zögerte sie, ob sie die Hütte betreten oder auf mich zugehen solle. Die Schneeeule saß immer noch auf ihrer Schulter, wie ein farbliches Gegenstück zu der schwarzen Gestalt.
    Mein Herz raste. »Hallo!« rief ich so laut ich konnte, um sie auf mich zu lenken.
    Aus der Hütte drang Roys verzweifeltes Knurren. In einem Anfall von Angst versuchte er, sein und Marits Leben zu verteidigen. Als Antwort darauf breitete die Eule die Flügel zu einer mächtigen Spannweite aus, begann wild zu schlagen und ebenso laut zu kreischen. Wenn ich daran dachte, was die Gestalt scheinbar mühelos mit den beiden größeren Huskies angestellt hatte, würde Roys Leben nur noch von kurzer Dauer sein, falls sich die Kreatur dazu entschloß, zuerst die Hütte zu betreten.
    »Hallo!« brüllte ich erneut. »Hierher!«
    Schließlich wandte sich das Geschöpf um und machte einige Schritte auf mich zu. Da sah ich, daß sie barfuß über das Eis ging. Die Zehen waren schwarz, genauso wie die Hände und die leeren Augenhöhlen. Ich wußte, daß die Kreatur mir die Bauchhöhle mit einem einzigen Handgriff aufreißen, oder mir den Kopf ebenso kinderleicht auf den Rücken drehen konnte, wie sie es bei Gjertsen getan hatte. Trotzdem ging ich mit erhobener Waffe auf sie zu, in der Hoffnung, eine Kugel könne sie aufhalten.
    Aber ich stoppte jäh, als ich eine Stimme in meinem Kopf hörte. Es war Christiansons Stimme. Der Akzent und die Betonung des jungen Schweden, der vor knapp drei Jahren in den Schacht gestürzt war und dessen Antlitz sich in den Fels gebrannt hatte, waren unverwechselbar.
    Fürchte dich nicht. Ich bin der Erste und der Letzte und der Lebendige, ich war tot, doch siehe, ich bin lebend in alle Ewigkeit und ich habe die Schlüssel des Todes und der Hölle.
    Die Gestalt breitete die Arme aus. Aus einem unerklärlichen Grund wußte ich, daß ich soeben eine Stelle aus der Offenbarung des Johannes gehört hatte. Während die Kreatur ihre Worte wiederholte, ging ich langsam auf sie zu. Die Gestalt bewegte weder ihre Lippen, noch drangen die Worte über das Eis zu mir. Die Gedanken wurden direkt in meinen Kopf gesprochen.
    Als das Geschöpf die Hand ausstreckte, um mit dem Finger auf mich zu zeigen, sah ich, daß es keine Fingernägel mehr besaß. Sie waren weg, genauso wie die Fingerkuppen. Aus der Hand ragten nur noch schwarze Stümpfe, als sei es jahrelang aus dem tiefsten Abgrund an der Felswand des Schachts emporgekrochen. Die leeren, tiefschwarzen Augenhöhlen erinnerten mich an Brehm, der kurz vor seinem Tod dem Wahnsinn verfallen war und versucht hatte, sich die eigenen Augen mit bloßen Händen rauszureißen.
    »Was willst du?« rief ich, um die schreckliche Stimme in meinem Kopf zum Schweigen zu bringen.
    Die verstümmelte, einst Mensch gewesene Kreatur fuhr sich mit dem schwarzen Fingerstumpf an die Stirn. Dort sah ich das Malzeichen, eingebrannt in ihr Fleisch: der Schatten einer Eule mit ausgebreiteten Flügeln.
    Die Eulen, ich habe sie dort unten gesehen, Alexander. Ihr habt die Ruhe der Eulen gestört. Ihr dürft nicht weiter. Aber du kennst das Geheimnis, du bist infiziert.

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