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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Hals war so verbogen, daß die Wirbel wie Höcker aus der gespannten Nackenhaut ragten.
    Mit rasendem Herzen blickte ich mich um. Es wurde Zeit, von hier zu verschwinden. Da schlug mitten in der Station eine Tür. Ich hörte Roy winseln und kurz darauf Marits Schrei.
    »Marit!« Sofort startete ich los und lief durch die Station. Die ersten Lampen waren bereits ausgegangen.
    »Marit!« Ich erhielt keine Antwort, bloß Roys herzerweichendes Winseln.
    Die Tür zu Rönnes Kammer stand sperrangelweit offen. Ich stürzte hinein. Drinnen war es stockdunkel. Aus der Ecke drang ein Rascheln und Schaben. Roy, der an einen Bettpfosten gebunden war, verkroch sich unter dem Lattenrost.
    »Brav, alter Junge«, versuchte ich das Tier zu beruhigen.
    Mitten im Zimmer lag eine Gestalt auf dem Boden. Marit! Nein, bitte nicht auch noch Marit! Mit etwas Glück war sie nur bewußtlos. Ich griff nach der Lampe, die im Gang stand und stellte sie neben Marits Körper. Ihre Augen waren geschlossen. Und da sah ich, daß sie in einer großen Blutlache lag. Ihr Pullover war zerfetzt, ihre Bauchdecke aufgerissen. Sie litt unter schwerem Blutverlust. Es pulste in Wellen aus ihrem Körper. Ihr Herz mußte also noch schlagen. Sogleich preßte ich meine leblose Hand auf die Verletzung. Ich mußte die Blutung stillen, die Wunde nähen und Marit einen Druckverband anlegen, sonst würde sie innerhalb der nächsten Minuten sterben.
    »Mädchen, du kommst durch.« Ich sah mich um.
    Meine Arzttasche stand noch immer im Zimmer, da ich sie nicht benötigt hatte, seitdem ich Rönnes zerschossenen Kopf bandagiert hatte. Mit der freien Hand tastete ich über die Tischplatte und zerrte die Tasche vom Pult. Dabei schnitt ich mich an der scharfen Klinge des Bajonetts. Rönne hatte den verdammten Gewehraufsatz, welchen er Tag und Nacht mit dem Schleifstein bearbeitet hatte, achtlos auf dem Tisch liegen lassen.
    Ungeachtet der Verletzung riß ich die Tasche auf. Zunächst injizierte ich Marit eine Ampulle Morphium. Danach desinfizierte ich die Bauchdecke und nähte den Riß so gut ich konnte zu. Ich benötigte elf Stiche. Es war kein Meisterwerk, da ich die aufklaffende Wunde mit der steifen Hand nur behelfsmäßig zuhalten konnte und ich wegen der Blutung und des schlechten Lichts nicht ausreichend sah. Zwar war die Verletzung eine Handbreit lang, aber zum Glück nicht tief. Soviel ich erkennen konnte, stammte sie von keinem Messer oder einer ähnlichen Waffe, sondern sah aus, als wäre sie ihr mit bloßen Händen zugefügt worden … als habe ihr jemand die Bauchdecke mit den Fingern aufgerissen. Mit etwas Glück kam Marit ohne innere Verletzungen davon. Als ich den Faden mit den Zähnen abbiß, hörte ich ein schleifendes Geräusch im Gang. Aber ich durfte mich nicht davon ablenken lassen, sondern mußte weiterarbeiten. Da die Blutung immer noch nicht gestillt war, legte ich Marit mit Mullbinden einen Druckverband an. Mehr konnte ich für sie nicht tun. Ich fühlte ihren Puls. Er ging schwach, Marits Augenlider flatterten. Ich mußte sie am Leben erhalten, um jeden Preis, und wenn es das Letzte war, wofür ich kämpfte.
    Vorsichtig hievte ich ihren Körper in eine aufrechte Position, packte sie unter der Achsel und der Kniekehle und hob sie hoch. Wie mit einer Braut, die man über die Türschwelle trug, trat ich mit ihr in den Gang. Ich sah mich um, konnte jedoch nichts Ungewöhnliches feststellen. Danach lief ich mit ihr so rasch ich konnte zum Ausgang. Als ich ins Freie gelangte, blies mir der Sturm Schneewehen ins Gesicht. Das Wetter hatte innerhalb weniger Minuten umgeschlagen. Marit war mit dem Packen des Schlittens nicht weit gekommen. Bloß einige Decken, das Zelt, der Gaskocher, die Gasflasche und der Rucksack mit den Lebensmitteln lagen festgezurrt auf dem Schlitten. Am anderen Ende stand die Truhe mit den Forschungsergebnissen. Ich trat die Kiste kurzerhand vom Schlitten und bettete Marit auf die freie Fläche. Ich mußte noch einmal zurück, um den Husky zu holen und die Lunten zu entzünden.
    In der Station wurde es immer dunkler. Manche Lampen züngelten nur noch mit schwacher Flamme. Als ich am Kasino vorbeischlich, hörte ich wieder dieses schleifende Geräusch. Rasch ging ich weiter. Mit rasendem Herzen betrat ich Rönnes Kabine. Roy kauerte noch immer unter dem Lattenrost. Vorsichtig löste ich die Leine vom Bettpfosten. Der Husky lief sofort zwischen meine Beine, gab aber keinen Laut von sich, als wüßte er, daß wir still und heimlich die

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