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Das Eulentor

Das Eulentor

Titel: Das Eulentor Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Andreas Gruber
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Skagerrak und fuhr aus der Bucht. Das Ufer, der Anlegeplatz mit der Mole und die Steilklippe wurden immer kleiner, bis sie hinter einer Biegung verschwanden. Immer wieder überlegte ich mir, wie all das hätte enden können, wäre ich doch nur eine Woche früher auf die Insel gekommen. Vielleicht wäre es mir gelungen, mehr Menschenleben zu retten, und nicht nur das von Marit, die nun die einzige überlebende Erdfahrerin dieser einst so stolzen Forschungsstation war.
    Im Moment lag das Mädchen unter Deck in meiner Kabine. Der Schiffsarzt, ein junger Mann, der in Stockholm studiert und bereits einige Erfahrung an Bord von Schiffen gesammelt hatte, kümmerte sich um sie. Bei ihm war sie in besten Händen. Er hatte ihre Wunde gesäubert, teilweise frisch vernäht und ihr einen fachmännischen Verband angelegt. Marit schlief immer noch, geschwächt vom Blutverlust und von den schmerzstillenden und fiebersenkenden Mitteln. Aber sobald sie erwachte, erwartete sie eine heiße, kräftigende Fleischbrühe. Zweifelsohne würde sie wieder gesund werden, das hatte mir der Schiffsarzt versprochen. Vermutlich folgte sie mir von Tromsø nach Oslo, und würde von dort unter falschem Namen nach Dänemark Weiterreisen. Wegen ihres Großvaters konnte sie nicht nach Hammerfest zurückkehren. Sie hatte ihre eigene Hölle verlassen und gegen eine andere, viel schlimmere getauscht. Ich fragte mich, ob Marit weiterhin in den Ställen der Huskies schlafen würde. Wenn ein Mädchen Glück verdiente, dann sie. Es gab noch so viele unerforschte Gebiete in dieser Welt. Vielleicht fand sie Arbeit als Führerin von Schlittenhunden. Immerhin war sie zäh und hatte das Talent dazu.
    Auch wenn Marit alles hinter sich gebracht hatte – für mich war diese Sache noch nicht ausgestanden. Unter Deck lag eine Holzkiste, welche die Matrosen zu einem simplen Sarg umfunktioniert hatten, in dem sich die Überreste von Christiansons Leiche befanden. Erst wenn man den Verstorbenen in die Osloer Gerichtsmedizin überstellt und der Oberarzt ihn untersucht hatte, die Behörden Brehm, Rönne, Björn, Hansen, Nilsen und Gjertsen für Tod erklärt hatten und die Formalitäten abgeschlossen waren, hatte dieses traurige Kapitel endlich ein Ende gefunden. Bis dahin standen mir noch Dutzende Anhörungen bevor. Da das Feuer die Truhe mit den Dokumenten verzehrt hatte, waren mein Tagebuch und eine Menge schrecklicher Erinnerungen als einziges übrig geblieben. Bis auf Marit und mich kannte niemand die Wahrheit.
    Die Klippen des Fjords zogen an mir vorüber. Eine innere Kälte erfaßte mich. Schließlich zog ich den noch ungeöffneten Brief aus der Jackentasche, den mir Kapitän Anderson gleich nach der Ankunft mit einem Packen weiterer Briefe überreicht hatte. Mein rechter Arm, bandagiert und mit einer Schlinge am Oberkörper fixiert, machte mir zu schaffen. Umständlich brach ich das versiegelte Kuvert mit der Linken auf. Das Schreiben stammte vom k.u.k.-Truppenverband. Ich bildete mir nichts darauf ein, denn so wie ich, hatten es vermutlich Tausende andere auch erhalten. Der Brief begann mit den Worten des Kaisers:
     
    In dieser ernsten Stunde bin ich mir der Tragweite meines Entschlusses und meiner Verantwortung vor dem Allmächtigen voll bewußt. Ich habe alles geprüft und erwogen. Mit ruhigem Gewissen betrete ich den Weg, den die Pflicht mir weist.
     
    Ich las das zweiseitige Schriftstück mit einer inneren Leere, die ich nie zuvor verspürt hatte. Vor einer Woche, am 28. Juli 1914, als das Schiff mit mir an Bord in Spitzbergen angelegt hatte, waren in meiner Heimat die Weichen für die Zukunft gestellt worden: Kaiser Franz Joseph hatte die Kriegserklärung der Monarchie an Serbien unterzeichnet. Österreich-Ungarn befand sich seit einer Woche im Kriegszustand. Nachdem bereits vor Tagen die erste Aufrüstung erfolgt war, lief derzeit die allgemeine Mobilisierung der k.u.k.-Streitkräfte. Etwa acht Millionen Männer zwischen achtzehn und fünfzig Jahren, hieß es in dem Brief, waren davon erfaßt – darunter auch ich. Das Truppenkommando hatte mich dem kaiserlich und königlichen Infanterie-Regiment von Feldmarschall Graf von Tannbruck zugewiesen, wo ich mich binnen einer Woche einfinden mußte.
    Ich konnte mir gut vorstellen, daß alle an der Erforschung des Schachts beteiligten Finnen über Nacht ihre finanziellen Mittel abgezogen hatten. Ein Sterben in weit größeren Dimensionen war vorrangig geworden. Ich ließ die anderen Briefe von den Berliner

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