Das Evangelium nach Satan
Kalabrien gefasst hatte. Die zweite war 1511 angefertigt worden, dem Jahr des Massakers an der Gemeinschaft der Weltfernen Schwestern im spanischen Saragossa. 1591 gab es erneut ein Massaker in Spanien, dem die Weltfernen Schwestern des Klosters von Santo Domingo zum Opfer fielen. Jedes Mal hatte man den Täter zu den schwersten Strafen und zu einem sich lang hinziehenden Sterben verurteilt: Er war aufs Rad geflochten, gevierteilt, gehängt und in siedendes Öl geworfen worden. Anschließend hatte man ihm den Kopf abgeschlagen, damit er nicht den Weg aus seinem Grab finden konnte. Doch immer wieder war wenige Jahre später das Morden an einem anderen Ort nach genau dem gleichen Muster weitergegangen.
Mit einer Lupe vergleicht Maria die bei der Urteilsverkündung angefertigten Zeichnungen und Radierungen der Angeklagten. Es ist immer dasselbe Gesicht, es ist Kaleb.
22
Maria ist so sehr von dem gefesselt, was sie liest, dass sie nicht merkt, wie die Zeit vergeht. Als sie den Blick hebt, sieht sie, dass die Kerzen zur Hälfte heruntergebrannt sind und sich lange Wachsspiralen auf den Armen des Leuchters gebildet haben. Sie schaut auf die Uhr: halb fünf. Wenn sie nicht von den Weltfernen Schwestern überrascht werden will, muss sie sich beeilen.
Sie klappt den Bericht über Kains Kinder zu und stellt das Buch an seinen Platz zurück. Ein weißes Wölkchen kommt aus ihrem Mund. Allem Anschein ist es schlagartig kälter geworden. Ihr fällt auf, dass eine dünne Reifschicht die Handschriften bedeckt. In der Dunkelheit hört sie ein Schluchzen. Sie dreht sich um und sieht eine Gestalt dort, wo sie selbst noch vor wenigen Augenblicken gesessen hat.
Die ermordete Schwester tastet mit den Fingerspitzen über die Vertiefungen, die ihre eigenen Fingernägel im Holz hinterlassen haben. Während Maria mit zitternder Hand zur Waffe greift, beobachtet sie die Unglückselige, die unhörbare Worte vor sich hin flüstert, wobei sie immer wieder von Schluchzen unterbrochen wird. Langsam hebt die Alte den Kopf. Auch wenn ihr Gesicht nur noch eine schwärzliche Masse ist, liest Maria in ihren toten Augen eine so große Trauer und so tiefes Leid, dass ihre Furcht mit einem Schlag schwindet. Gerade will sie den Mund öffnete, als sich der Blick der Nonne auf sie richtet. Mit heiserer Stimme fragt sie: »Können Sie mich sehen?«
Maria nickt. Die Nonne schließt die Augen: »Was werden Sie jetzt tun?«
»Die Behörden verständigen.«
»Dazu wird Ihnen keine Zeit bleiben, mein armes Kind.«
»Wie bitte?«
Maria fährt auf. Über sich hört sie ein schnarrendes Geräusch. Die Falltür. Maria beginnt, an allen Gliedern zu zittern. Ein irres Lachen dringt aus dem Mund der Nonne: »Er kommt.«
Maria hebt ihre Pistole.
»Wer?«
»Es ist sinnlos zu kämpfen, mein Kind. Gegen den, der da kommt, können Sie nichts ausrichten. Schießen Sie sich Ihre Kugel lieber in den Mund, damit ich Sie mit mir in die Hölle nehmen kann.«
Ferne Schritte ertönen in der Stille: Jemand kommt die Treppe herab. Lautlos wie eine Katze dreht sich Maria um und zielt in die Richtung, aus der sie die Schritte hört.
»Um Gottes willen, Schwester, sagen Sie mir, wer da kommt.«
Ein Seitenblick zum Tisch zeigt ihr, dass die Nonne verschwunden ist. Das Gitter öffnet sich knarrend. Maria geht in die Hocke und richtet den Lauf auf den Eingang zur verbotenen Bibliothek.
Das Wesen tritt ein. Es trägt eine schwarze Kutte und Sandalen. Die flackernden Kerzenflammen lassen seinen Schatten riesig erscheinen. Sein Gesicht ist unter einer Mönchskapuze vollständig verborgen. Während es den Blick über die Regale gleiten lässt, scheinen seine Augen zu glänzen. Maria schlägt sich die Hand vor den Mund. Großer Gott, das ist doch unmöglich …
Das Wesen lässt die Fingerspitzen über den Schnitt einiger Bücher gleiten und schreitet langsam durch den Raum. Dann bleibt es stehen. Es hat gefunden, was es sucht. Es nimmt einen dicken Band aus dem Regal und legt ihn auf den Refektoriumstisch. Im zitternden Licht der Kerzen sieht Maria, wie es den Einband auftrennt und einen Umschlag herauszieht. Sie fragt sich im Stillen, wie viele geheime Dokumente die Weltfernen Schwestern auf diese Weise im Lauf der Jahrhunderte versteckt haben mögen. Zweifellos Tausende.
Das Wesen im Mönchsgewand reißt den Umschlag auf, nimmt ein Blatt heraus und beginnt, es im Licht der Kerzen zu entziffern. Nach einer Weile hebt es den Kopf. Seine leuchtenden Augen suchen in der
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