Das Evangelium nach Satan
Dunkelheit. Maria, die sich bemüht hat, lautlos zu atmen, erstarrt. Es hat ihre Anwesenheit entdeckt. Sie entsichert ihre Waffe und tritt aus dem Schatten heraus.
Es scheint nicht im Geringsten von der Waffe beeindruckt zu sein. Während sie den imaginären Punkt zwischen den leuchtenden Augen des Mörders anvisiert, hebt dieser langsam die Arme, wie im Gebet.
»Schluss damit, Dreckskerl. Noch eine Bewegung, ohne dass ich es sage, und ich schieß dir die Kapuze runter.«
Ein Schnaufen.
»Diese Waffe würde Ihnen nicht das Geringste nützen, wenn ich der wäre, für den Sie mich halten.«
Diese Stimme … Maria spürt, wie ihre Handflächen feucht werden.
»Wer sind Sie?«
Mit einer langsamen Bewegung wird die Kapuze zurückgeschlagen. Der Mann lächelt, aber sein Gesicht wirkt erschöpft. Sie nimmt den Finger vom Abzug.
»Pater Alfonso Carzo, Exorzist im Auftrag der Wunder-Kongregation des Vatikans. Ich komme aus Manaus und bin hier, um Ihnen zu helfen, Special Agent Maria Parks.«
»Woher wissen Sie, wer ich bin?«
»Ich weiß eine ganze Menge über Sie. Ich weiß, dass Sie die Gabe besitzen, Dinge zu sehen, die anderen Menschen verborgen bleiben, und auch, dass Sie ein Geheimnis entdeckt haben, das Sie nie hätten entdecken dürfen. Ich weiß aber auch, dass Sie sich im Augenblick in höchster Gefahr befinden.«
»Wäre es zu viel verlangt, wenn ich Sie bitte, mir zu zeigen, was Sie da gerade an sich genommen haben?«
»Aber nein. Es ist eine Liste mit lateinischen und griechischen Zitaten. Ein Dokument, das Ihnen für die Fortsetzung unserer Untersuchung von größtem Nutzen sein wird.«
»Haben Sie ›unsere Untersuchung‹ gesagt?«
»Alle weiteren Fragen beantworte ich später. Jetzt müssen wir uns beeilen.«
Gerade, als sie noch etwas sagen will, hört man, durch die Felswand stark gedämpft, alle Glocken des Klosters läuten. Carzos Züge spannen sich an.
»Was für ein Läuten ist das? Ruft es zum ersten Morgengebet?«
Der Exorzist hebt den Kopf zur Decke und lauscht. »Großer Gott, das ist Alarmläuten.«
Aus der Ferne dringen Geräusche zu ihnen. Sie hören, wie sich die Falltür öffnet. Jemand kommt die Treppe herabgeeilt. Maria spürt, wie der Exorzist mit überraschender Kraft ihren Arm ergreift.
»Kommen Sie mit, wenn Ihnen Ihr Leben lieb ist.«
Während Carzo sie durch einen Geheimgang aus der Bibliothek führt, begreift Maria mit einem Schlag, was die vielen Stimmen und das Geräusch zahlreicher Füße hinter ihnen zu bedeuten haben: Voll Hass macht die Meute der Nonnen Jagd auf sie und ihren Begleiter.
23
Sie läuft durch die unterirdischen Gänge, so schnell sie kann. Mehrere Male gleitet sie auf dem nassen Boden aus, und nur die feste Hand des Priesters um ihren Arm hält sie auf den Beinen. Sie haben bereits mehr als vierhundert Meter in völliger Dunkelheit zurückgelegt. Maria ist überzeugt, dass die Nonnen die Verfolgung aufgegeben haben. Atemlos versucht sie, den Schritt zu verlangsamen, doch Carzo zieht sie mit unverminderter Geschwindigkeit hinter sich her. »Sie dürfen auf keinen Fall stehen bleiben.« Im selben Augenblick hört sie in der Ferne das Geräusch von Sandalen auf den Steinen. Sofort steigert der Priester das Tempo wieder. »Laufen Sie! Laufen Sie, so schnell Sie können!«
Angespannt lauscht Maria hinter sich. Das Geschrei der Nonnen, die sie verfolgen, scheint immer näher zu kommen. Wieso können die alten Weiber so schnell rennen? Die laufen nicht, die galoppieren.
Sie ringt nach Luft. Carzo mahnt: »Drehen Sie sich auf keinen Fall um!«
Zu spät. Wie ein kleines Kind, das sich von einem Ungeheuer verfolgt fühlt, hat sie sich umgeblickt Was sie sieht, lässt ihren Atem stocken. Fackeln. Gekrümmte alte Gestalten, die mit unglaublicher Geschwindigkeit auf allen vieren heranstürmen, wobei sie Knurrlaute wie wilde Tiere von sich geben. An der Spitze dieser Meute sieht sie Mutter Abigail, die ein Wutgebell ausstößt. Der Anblick erfüllt Maria mit Entsetzen.
Weit vor ihnen schimmert es grau. Marias Puls schlägt heftiger. Dort zeichnet sich der Ausgang im hellen Licht des Tagesanbruchs ab. Sie nimmt alle Kräfte zusammen und bemüht sich, nicht auf das Kläffen und Kreischen hinter sich zu hören. Mit einem Mal verstummen die Wesen, die da durch die Dunkelheit galoppieren. Man hört nur noch das Geräusch ihrer Sandalen auf dem Steinboden. Vermutlich sparen sie ihren Atem, weil sie die Beute unbedingt vor dem Ende des Tunnels einholen
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