Das Evangelium nach Satan
Erinnerungen überlagerten Bilder, sondern ein vollständiges Eindringen in die Kleine. Es war erschreckend, sich mit einem Mal wie in völliger Osmose in einem anderen Menschen wiederzufinden. Ja, Maria hatte sich eine ganze Nacht lang in Meredith verwandelt.
Zuerst waren da die Geräusche und die Gerüche. Der ohrenbetäubende Lärm eines Schulhofs. Meredith fällt zu Boden. Sie kneift die Augen fest zusammen und versucht, die Tränen zurückzuhalten. Kleine Tränen der Wut und der Scham, weil Jenny sie beim Fangenspielen von hinten zu Boden gestoßen hat. Sie ist ungeschickt auf Hände und Knie gefallen. Bestimmt haben die Jungen ihr Höschen gesehen. Meredith hört sie hinter sich lachen. Ihre Handflächen schmerzen, die Knie brennen. Sie blutet. Mama wird mit ihr schimpfen, weil sie sich auf dem Kies die Strumpfhose aufgerissen hat.
Am liebsten wäre sie tot. Oder ganz schlimm verletzt – ein richtiger Knochenbruch, ein aufgeschlagenes Knie oder eine Wunde, die fürchterlich blutet. Alles lieber, als plump auf den Hof zu fallen und den Jungen das Höschen zu zeigen. Das Miststück Jenny! Während Meredith Wut und Tränen tapfer herunterschluckt, hört sie das Lachen der Schulkameraden, die sich um sie herum versammeln. Sie wagt nicht, die Augen zu öffnen. Sie hört das Springseil der anderen Mädchen auf den Boden schlagen, das Geräusch, das die Sohlen Vorüberlaufender machen, und die Rufe von Kindern, die einander jagen.
In der Ferne schlägt die Kirchenglocke von Bennington. Es ist vier Uhr. Endlich öffnet Meredith die Augen. Licht fällt auf Marias Vision. Durch die Augen des Mädchens sieht sie die hämischen Gesichter der Jungen, die mit Fingern auf sie zeigen und sich vor Lachen nicht halten können. Eine Flut misstönender Geräusche. Kaum kann sie ihre Tränen zurückhalten. Aber sie darf auf keinen Fall weinen. Lieber sterben. Die Trillerpfeife der Lehrerin rettet sie. Die anderen trollen sich. Niemand kümmert sich um das pummelige Mädchen, das in seinem orangefarbenen Anorak am Boden liegt.
Meredith steht auf, nimmt ihren Schulranzen und geht zum Tor, wo Eltern, die es eilig haben, ihre Kinder abholen. Bald ist niemand mehr da, nur noch der Hausmeister, der das welke Laub zusammenkehrt. Sie wartet. Sie hebt den Blick zum Kirchturm. Es ist zehn nach vier. Mama hat sich verspätet, wie immer. Sie sieht auf ihre schmutzigen Hände und die aufgeschürften Knie. Als sie sich vorbeugt, sieht sie zwei kleine Blutflecken auf der zerrissenen Strumpfhose. Wenn doch nur die Mutter käme! Wie gern möchte sie sich in ihre warmen Arme flüchten und ihren Kopf darin verbergen, damit niemand ihre Tränen sieht.
Viertel nach vier. Wütend und traurig zieht sie den Reißverschluss ihres Anoraks zu und macht sich auf den Weg. Sie überquert die Straße, geht um die Kirche herum und nimmt dann den Weg durch die Felder. Sie will am Waldrand entlang zum Bauernhof der Familie Hanson gehen, von wo aus ein Feldweg zu ihrem Elternhaus führt. Wenn sie langsam geht, braucht sie eine Viertelstunde – genug Zeit, um zu überlegen, wie sie sich an dem Miststück Jenny rächen wird.
Jetzt hat sie den Waldrand erreicht. Das düstere Gehölz verschlingt Kinder. Das jedenfalls sagen ihnen die Erwachsenen, weil sie wollen, dass sie ohne Umweg von der Schule nach Hause gehen. Meredith glaubt das nicht. Immerhin ist sie schon acht. Trotzdem hält sie sich vorsichtshalber am Rand des Waldes und geht den Baumwurzeln aus dem Weg, die in den Feldrain hineinwachsen. Sie weicht sogar den Schatten der Bäume aus, die sie vorübergehen sehen, und wirft vorsichtige Blicke durch die tief hängenden Zweige der alten Schwarztannen, unter denen es nach Moos, Feuchtigkeit und altem Laub riecht. Die Flechten auf den Baumstämmen sehen aus wie abgestorbene Hautstücke. Man könnte denken, dass es leprakranke Bäume sind, die Kinder ersticken. Trotz ihrer acht Jahre hat Meredith jetzt Angst. Sie beschleunigt den Schritt. Mit einem Mal hört sie hinter sich ein dumpfes Knurren. Sie bleibt stehen und dreht sich um.
Im tiefen Gras sieht sie einen schwarzen Umriss. Eiseskälte breitet sich in ihrem Unterleib aus. Es ist Würger, der halb blinde alte Rottweiler der Hansons. Er ist fürchterlich bissig. Die Jungen des Dorfes, die auf den Wiesen der Familie Hanson Champignons stibitzt haben, können ein Lied davon singen.
Etwas stimmt mit dem Hund nicht. Meredith hat den Eindruck, dass er sie nicht erkennt. Ob er … verrückt geworden ist? Kann
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