Das Evangelium nach Satan
des Mannes. Er riecht nach Schweiß und Blut. Es ist der gleiche Geruch, den Jessica Fletchers Vater an dem Abend ausgeströmt hat, an dem er verrückt wurde, ein Geruch nach totem Kind. Jetzt begreift Meredith, dass sie sterben muss. Sie beißt in den Pullover, bricht in Schluchzen aus, als sie spürt, wie aus dem Geruch ein Geschmack wird. Dann schlägt sie verzweifelt auf den Mann ein, tritt nach ihm, schreit. Je mehr sie sich wehrt, desto fester schließen sich seine Arme um sie.
»Sei nett zu Papa, verdammtes kleines Miststück.« Maria spürt, wie sich die Hand des Mannes um den Hals des Mädchens schließt. Meredith erstickt. Sie kratzt die Hand, die im Begriff steht, sie zu töten, möchte dem Mann etwas sagen: dass es ihr leid tut, dass sie in Zukunft brav sein und nie wieder Dummheiten machen will. Dann blitzt über ihrem Kopf der Hirschfänger auf. Sie spürt einen grässlichen Schmerz, der ihr an der ganzen Wirbelsäule entlangfährt, als etwas Eisiges sie durchbohrt, eine elektrische Entladung ihr in Arme und Beine fährt. Schmerzen hüllen sie ein. Die Klinge dringt ein und wird herausgezogen, stößt erneut in ihren Rücken, durchtrennt Wirbel, zerschneidet Adern und zerfetzt innere Organe. Meredith spürt den Atem des Mannes an ihrer Wange, während er sie an sich drückt, um besser auf sie einstechen zu können. Sie spürt, wie der Mund des Ungeheuers ihr Gesicht berührt, seine kalte, nach Erde schmeckende Zunge auf ihren Lippen. Da erfasst Eiseskälte sie, und der Schmerz entfernt sich. Der Hirschfänger stößt immer wieder zu, aber sie spürt das Eindringen der Klinge kaum noch. Sie hört die Vögel in den Bäumen zwitschern, sieht das Rinnsal und die kleine Steinbrücke, die darüberführt. Das Sonnenlicht erlischt. Meredith schließt die Augen. Sie leidet nicht mehr.
11
Null Uhr zwanzig. Maria schläft noch immer tief und fest, ohne Erinnerungen. Es ist, als decke eine dicke Glasscheibe einen Graben zu, in dem die Opfer von Serienmördern wehklagen, eine Scheibe aus Panzerglas, die das Schreien erstickt, die Bilder aber durchlässt. Sie sieht die blutüberströmte Jessica Fletcher unter ihrer Steppdecke, sieht Meredith unter der kleinen Steinbrücke im Wasser liegen, wo das FBI ihre geschändete Leiche gefunden hat. Meredith sieht sie an und streckt ihr die mit Schlamm bedeckten Arme entgegen. Durch die Panzerglasscheibe betrachtet Maria das Kind. Sein Mund steht offen, Moos steckt in seinen Haaren. Aber sie hört es nicht schreien. Sie braucht nur die Augen zu schließen und zu hoffen, dass es ihr gelingt, wach zu werden, bevor die Bilder unter der Wirkung des Medikaments zerrinnen.
∗ ∗ ∗
Maria hatte den Mörder der kleinen Meredith an einem Herbstabend gestellt. Sie erinnerte sich an die Farben des Waldes – das Gelb und das Rot –, an den lehmigen Boden auf den Wegen, in dem sich die Schuhe festsogen, die Pfützen, die noch vom letzten Regen in den Wagenspuren standen, aber auch an den Geruch nach Baumrinde und nasser Erde, die im ockerfarbenen Schein der Abenddämmerung eine dicke Laubschicht bedeckte.
Zwei volle Tage hatten die FBI-Beamten nahe der kleinen Steinbrücke gewartet, sich gelangweilt und die Minuten gezählt. Am Abend des zweiten Tages dann hatten sie endlich jemanden kommen hören, mit dem gleichen schweren Schritt wie in Marias Vision.
Der Hausmeister der Schule war neben dem kleinen Rinnsal stehen geblieben und hatte witternd die Luft eingesogen, reglos, als spüre er, dass jemand in der Nähe war, oder als wisse er, dass er verspielt hatte. Im Laufe einer einzigen Woche hatte er drei weitere Kinder umgebracht. Die Serie hatte sich beschleunigt, wie immer, wenn der Trieb übermächtig wird und so viel Gewalt über die Persönlichkeit des Täters gewinnt, dass er ihm nicht mehr Einhalt gebieten kann. Bei dieser Art von Besessenheit ist es so ähnlich, wie wenn die finsteren Fluten eines Wasserlaufs über die Ufer treten. Sie gibt sich mit nichts anderem zufrieden als mit Blut, immer mehr Blut.
Wenn es so weit ist, begeht der Täter zwei Fehler: Er wird nachlässiger, und seine Morde verlieren jede Förmlichkeit – etwa so wie ein gläubiger Mensch irgendwann nur noch aus Gewohnheit oder Langeweile zum Gottesdienst geht. Der Unterschied allerdings liegt darin, dass es im ersten Fall keine Möglichkeit gibt, dem Drang zum Töten Einhalt zu gebieten. Der Mechanismus läuft ungefähr so ab wie bei einem schon lange Abhängigen mit einer Dosis billigem Heroin in
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