Das Evangelium nach Satan
ein Hund verrückt werden? Meredith weiß es nicht. Sie wirft einen ängstlichen Blick in seinen Rachen. Plötzlich muss sie dringend Pipi machen. Sie kneift die Hinterbacken fest zusammen und sagt mit zitternder Stimme: »Ganz ruhig, Würger, ganz ruhig, mein Hund. Ich bin es, Meredith Johnson.«
Aber Würger hört nicht auf sie. Er knurrt. Seine kräftigen Muskeln spannen sich. Seine Hinterläufe zittern vor Wut. Das schwarze Fell auf seinem Rücken sträubt sich. Eine Geiferwolke fliegt um seine Schnauze. Dann hat Meredith begriffen. Vermutlich hat ihn eine Fledermaus gebissen, und jetzt ist er tollwütig.
»Hilfe, Mama! Würger will mich fressen!«
Maria stöhnt im Schlaf auf. Würger stürmt auf das Kind zu. Meredith rennt schluchzend und voll panischer Angst ins Unterholz. Sie zerteilt die Äste, ohne darauf zu achten, dass ihr deren scharfe Spitzen Löcher in die Strumpfhose reißen, noch darauf, dass ihr Zweige ins Gesicht peitschen. Sie hört nur das Ungeheuer, das sie verfolgt. Sie spürt seinen Atem auf der Haut und rechnet jeden Augenblick damit, dass es seine mächtigen Kiefer in ihre Fersen schlägt. Sie stolpert und lässt einen ihrer Schuhe in Würgers Maul zurück. Rasch steht sie wieder auf und rennt weiter, immer geradeaus. Sie hält schützend die Hände vor die Augen, zerteilt die niedrigen Zweige vor sich und rennt, ohne sich umzudrehen. Kaum spürt sie die Dornen der wilden Brombeerranken in ihrem nackten Fuß. Ihr Höschen ist ganz nass. Sie weint. Ihre Kehle brennt. Sie hat Angst. Sie ist niedergeschlagen. Sie ist wütend.
10
Meredith ist lange gelaufen. Zu lange. Der Wald ist jetzt so dicht, dass kaum noch Sonnenlicht hereinfällt. Sogar die Geräusche scheinen nicht bis dorthin zu dringen. Sie läuft langsamer, blickt sich um. Nichts. Wie es aussieht, hat Würger von ihr abgelassen. Oder lauert er ihr irgendwo auf, wartet auf sie? Außer Atem kniet sie sich ins Moos und lässt ihren Tränen freien Lauf. Sie weint lange, weint die ganze lähmende Angst aus sich heraus. Dann wischt sie sich das Gesicht ab und lauscht. In der Nähe fließt Wasser. Sie hebt den Blick und sieht ein Rinnsal und eine steinerne Brücke. Sie muss ziemlich weit in den Wald hineingerannt sein, denn hier war sie noch nie, und sie hat auch nie etwas von dieser Stelle gehört. Sie hat sich verlaufen. Das ist ihr im Augenblick aber gleichgültig: Noch hat sie weniger Angst vor dem Wald als vor den scharfen Zähnen des Hundes.
Während sie im Moos kniet, sucht sie mit dem Blick den Himmel über den Bäumen. Hier wirkt das Tageslicht grau, die Sonne hat sich wohl auch schon geneigt. Gerade als Meredith aufstehen will, hört sie Schritte, die sich durch das Farnkraut nähern. Maria fährt im Schlaf auf. Das Herz des Mädchens pocht wild. Ein Dampfwölkchen kommt aus ihren halb geöffneten Lippen. Maria spürt das Moos unter den Handflächen der Kleinen und das Brennen der Dornen in ihrem Fuß. Was Maria da hört, sind die Schritte eines Mannes. Sie wird unruhig. Lauf, Meredith! Bleib nicht da! Steh auf und renn weg!
Aber Meredith ist viel zu müde. Sie sieht zu dem Mann hin, der da auf sie zukommt. Ihr Herzschlag beruhigt sich wieder. Sie kennt den Mann. Sie mag ihn nicht besonders, hat aber keine Angst vor ihm.
Man hört seine Schritte jetzt nicht mehr, weil er über das Moos geht. Während ihn Meredith ansieht, kneift Maria die Augen zusammen, um seine Züge zu erkennen. Er ist hochgewachsen und kräftig. Er trägt eine großkarierte Jacke mit Pattentaschen. Am Gürtel hängt ein Hirschfänger, scharf wie ein Rasiermesser. Meredith sieht auf die Hände des Mannes. Es sind große schwielige Hände, die vor Erregung zittern, sich zusammenkrampfen und wieder lösen. Der große böse Wolf. Um Gottes willen, Meredith, steh auf und lauf weg!
Eigentümlicherweise spürt Maria, die sich im Schlaf unruhig hin und her wälzt, wie sich ihre eigene Angst auf Meredith überträgt. Die Kleine atmet heftig, ihre Fingerspitzen sind eiskalt. Sie fühlt sich beklommen, hat wieder Angst. Ihre Beine zittern vor Erschöpfung. Sie versucht aufzustehen, aber ein Krampf im Oberschenkel lässt sie stolpern. Gleich wird sie fallen. Der Mann ist sofort bei ihr und hält sie am Arm fest. Laut schreiend schlägt Meredith um sich. Der Mann packt sie am Genick und drückt sie an sich. Mit seiner lauten Stimme sagt er: »Keine Angst, Meredith Johnson, mein Kind, Papa ist bei dir.«
Die Nase der Kleinen verschwindet im Pullover unter der Jacke
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