Das Evangelium nach Satan
den Adern. Anfangs tötet ein Serienmörder, um seinen Trieb zu befriedigen, später hingegen, weil er seiner Sucht frönen muss. In diesem Stadium kehrt er gewöhnlich an den Ort früherer Verbrechen zurück, in der Hoffnung, dort etwas von der Befriedigung wiederzufinden, die er empfunden hat, als ihm das Töten noch etwas bedeutet hat. Dabei wird er gefasst, und die Serie ist zu Ende.
Als die FBI-Beamten den Mörder der kleinen Meredith vor dem Zielfernrohr sahen, hatten sie ihm die übliche Aufforderung zugerufen, sich zu ergeben. Daraufhin hatte sich der Mann mit säuerlichem Lächeln umgedreht, und im nächsten Augenblick hatte Maria den Mündungsblitz eines in Richtung auf die Scharfschützen abgefeuerten kurzläufigen .375 gesehen. Gleich darauf hatten vier Schüsse die kalte Luft zerrissen, und der Mörder war nach vorn in das Rinnsal gefallen. Sein Gesicht hatten die Kugeln fortgerissen. Maria hatte die Augen geschlossen. Sie kannte das schon. Auf diese Weise begingen Serienmörder gewöhnlich Selbstmord. Wann immer es dem FBI zufällig gelang, ein solches Ungeheuer lebend zu fassen, landete es unweigerlich in der psychiatrischen Abteilung eines Hochsicherheitsgefängnisses. Dort wurde ein solcher Mensch für den Rest seines Lebens hinter einer kugelsicheren Scheibe auf einem Stuhl festgeschnallt, und Koryphäen im weißen Kittel bemühten sich, in die Geheimnisse seines Gehirns einzudringen. Welche rätselhafte Kraft bringt einen Zeitungsboten, einen früheren Polizeibeamten oder einen Geistlichen dazu, Kinder oder alte Frauen abzuschlachten und ihre Leichen wie einen Sonntagsbraten zu zerstückeln? Das fehlende Glied zwischen Mensch und Untier ist nichts als eine durchgebrannte Sicherung. Ein Kurzschluss entsteht, ein fehlgesteuertes Neuron sendet ein falsches Signal an andere Neuronen. Damit wird die Serie ausgelöst, und das Ergebnis sind Dutzende von zerstückelten Leichen. Ganze Felder voller Grabsteine.
12
Im Laufe der Monate begannen die nächtlichen Visionen Maria den Tag zu vergiften. Die Schreie und die Bilder, die zu beherrschen sie noch nicht gelernt hatte, kamen einer seelischen Vergewaltigung gleich. Es hatte eine ganze Weile gedauert, bis sie erkannte, dass es sich vorwiegend um vor längerer Zeit begangene Verbrechen und um Mordfälle handelte, die man nach ergebnisloser Fahndung zu den Akten gelegt hatte. Ein weiteres Merkmal von Serienmördern, und für deren Verfolger zweifellos das quälendste, besteht darin, dass die Serie mitunter schlagartig aufhört, wenn sich die Leichen zu Bergen türmen, nachdem die Lust zu töten übermächtig geworden ist. Der Auslöser dafür ist ein weiterer Kurzschluss in einem anderen Teil des Gehirns. Das Raubtier kehrt zu seinem üblichen Tagesablauf zurück und wird wieder, was zu sein es nie wirklich aufgehört hatte: ein Mensch, auf den kein Schatten fällt. Jetzt kann man nur noch darauf warten, dass das kranke Neuron erneut im falschen Bereich des Gehirns feuert und eine neue Mordserie beginnt, vielleicht in einem anderen Land oder einem anderen Bundesstaat. Dann kann man die Akte erneut zur Hand nehmen und versuchen, den Täter zu fassen, bevor er abermals in seine trügerische Ruhe zurücksinkt.
Zu dieser im Jargon der FBI-Leute als »Wachabteilung« bezeichneten Einheit, die sich mit solchen Fällen beschäftigte, hatte man Maria nach Aufdeckung des Mordes an Meredith versetzt. Die drei Dutzend Polizeibeamten und Psychologen, die sie umfasste, standen ununterbrochen mit Polizeirevieren und Leichenschauhäusern auf der ganzen Welt in Verbindung, um bei Bedarf ohne Zeitverlust feststellen zu können, ob eine Serie wieder auflebte. Bei jedem aus dem Rahmen fallenden Gewaltverbrechen gingen die Autopsiebefunde an die Wachabteilung, die dann das Vorgehen des Täters mit dem verglich, was in den Akten stand: Hatte er das Opfer gehäutet, ihm Muster in die Haut geritzt, wie war der Täter bei der Zerstückelung vorgegangen, hatte er das Opfer auf andere Weise geschändet? Man suchte nach erkennbaren Ähnlichkeiten in der Vorgehensweise. Das Verfahren hatte den zusätzlichen Vorteil, dass man damit nicht nur Serienmördern auf die Spur kam, sondern auch dem einen oder anderen der kaltblütigen Crosskiller, die Maria für sich »Reisemörder« nannte, da es deren Hauptmerkmal ist, an beliebigen Orten zu töten und so gut wie keine Hinweise auf die Art ihres Vorgehens zu hinterlassen – ein Beleg für die Kaltblütigkeit, die sie an den Tag legen, wenn
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