Das Evangelium nach Satan
Eltern und zwei Kinder. Die Gesichter sind verschwommen, wie hinter einer Schicht dicker durchsichtiger Plastikfolie. Die Umrisse sind unscharf. Maria streicht mit den Fingern über die Tischplatte. Der Vorname und das Herz sind verschwunden. Ihre Finger verkrampfen sich.
Szenenwechsel.
Winter. Schnee. Die Luft ist frisch, der weite Himmel türkisblau. Die warmen Gerüche sind verschwunden: nur noch Kälte, Eis, Wind, kalte Gerüche. Im Unterholz bellen Hunde. Stimmen werden hörbar. Maria öffnet die Augen und sieht Jäger aus dem Dickicht treten, zwei riesige vermummte Gestalten in Lammfelljacken. Sie antworten auf die Rufe der Treiber, die aus der Ferne herübertönen. Zweige knacken. Ein Hirsch bricht aus dem Unterholz. Zwei Schüsse in der kalten Luft. Weidwund bricht das Tier in die Knie. Seine Läufe peitschen den Boden. Blut färbt sein Fell rot.
Durch den weißen Atem, der aus seinen Nüstern dringt, sieht der Hirsch zu Maria hin. Er weiß, dass sie dort ist. Die Jäger kommen näher. Einer der beiden setzt dem Tier einen Fuß auf die Flanke, hält den Lauf seines Gewehrs dicht über den Kopf und gibt ihm den Fangschuss. Ein Blutregen sprüht über den Schnee. Die Augen des Tieres brechen. Maria gräbt ihre Fingernägel tief ins Holz.
Szenenwechsel.
Die Jahreszeiten folgen aufeinander. Die Bäume wachsen in die Höhe, die Äste breiten sich weiter aus. Maria sieht, wie sich das Laub verfärbt und fällt. Dann folgen erneut Knospen und Blätter. Sie hebt den Blick. Wolken eilen am Himmel dahin. Tage und Nächte ziehen vorüber. Das Abendrot und das tiefdunkle Blau, das darauf folgt. Dann, als stehe das Herz still, verlangsamt sich die Zeit. Noch ein letztes Pochen, ein Lidschlag, einige Tage vergehen, einige Stunden, Minuten und dann Sekunden. Tropfen klatschen auf Marias Wachsjacke. Der Regen. Die Lichtung. Die Schlammlöcher. Unter ihren Fingern spürt sie wieder die ins Holz eingeritzten Zeichen. Eine halbe Stunde, bis sich Bannerman meldet. Man muss nur noch warten.
22
Dürre Äste brechen. Ein Strom von Angst durchfließt Maria, ätzend wie Säure. Sie dreht sich um und sieht unscharf eine Gestalt zwischen den Bäumen, nackt, zitternd, am Ende ihrer Kräfte. Es ist Rachel, die vor Angst vergeht. Maria spürt, wie sich deren Entsetzen in ihr ausbreitet. Jetzt ist sie im Mondlicht deutlich sichtbar. Sie kommt näher, bleibt unmittelbar vor Maria stehen und legt die Hände auf die Tischplatte. Sie schreit nicht mehr. Dazu fehlt ihr die Kraft. Sie beugt sich vor, um Atem zu schöpfen. Der Regen prasselt auf ihre Schultern. Ihre Arme und Beine zittern vor Erschöpfung. Ihr Gesicht ist hinter den nassen Haaren nicht zu sehen. Mit Tränen in den Augen sieht Maria auf Rachels Hände, die von Stiefeltritten gebrochenen und verdreckten Finger, die offen daliegenden Nagelbette.
Ein Geräusch in der Ferne. Rachel richtet sich auf und späht in die Dunkelheit. Ihr Gesicht ist vor Blut kaum zu erkennen, ihre geschwollenen Lippen öffnen sich leicht. Maria streckt die Hand aus, um ihren Arm zu streicheln. Die Haut unter ihren Fingern ist eiskalt.
Szenenwechsel.
Jetzt ist Maria in Rachel geschlüpft, friert wie sie. Sie spürt die Nadeln der Kiefern unter den Fußsohlen. Sie stöhnt, als sie merkt, wie sich Rachels Wunden eine nach der anderen in ihrer Haut öffnen. Mund und Schamgegend schmerzen entsetzlich. Es ist ein ungeheurer Schmerz, der die Eingeweide zu zerreißen droht.
Szenenwechsel.
Das Untier hat Rachel zweihundert Meter vor der Lichtung eingeholt und zusammengeschlagen. Jetzt setzt es sich auf sie und reißt ihr die Kleider herunter. Das Untier schlägt ihr mit der Faust die Zähne ein. Dann lässt es zu, dass sie flieht. Es will spielen, wie eine Katze.
Szenenwechsel.
Rachel hat sich taumelnd erhoben. Sie hat die Kraft gefunden, wieder zu laufen. Während sie durch Schlamm und Dornbüsche davoneilt, schreit sie unter Qualen. Das Blut, das ihr über das Gesicht läuft, nimmt ihr die Sicht. In der Ferne erkennt sie die Lichtung. Der Mörder folgt ihr mit gemessenen Schritten. Er lässt ihr einen kleinen Vorsprung. Er hat Zeit. Die Jagd hat erst angefangen.
Wieder ein Geräusch, diesmal sehr viel näher. Maria schrickt zusammen. Ihre Finger lösen sich von Rachels Haut. Die Verbindung ist abgerissen. Sie findet sich in ihrem eigenen Körper wieder. Die ausgeschlagenen Zähne kehren zurück, die Schwellung der Lippen schwindet, und die brennenden Wunden schließen sich. Wie herrlich es ist, wenn
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