Das Evangelium nach Satan
ihrem Opfer die Haut in Fetzen herunter, wenn sie sie nicht mit einer scharfen Klinge oder einer Säure ablösen. Danach kommen die tieferen Schichten an die Reihe: Sehnen und Bänder, bis schließlich nur noch die Knochen übrig sind. Entsprechend gehen sie beim Gesicht vor: Erst holen sie die Augen aus den Höhlen, dann nähen sie die Lider zusammen, schälen die Haut so lange von den Wangen, bis nichts mehr von den Gesichtszügen zu erkennen ist. Es sind frustrierte Täter, die ihr Opfer berühren müssen. Sie wollen es besitzen, es sich aneignen. So stark ist ihr zerstörerischer Hass, dass sie ihn kaum noch als solchen empfinden. Doch das Aussehen ihrer Opfer erschreckt sie. Sie sehen sich selbst in deren Augen gespiegelt, und diesen Spiegel gilt es zu schwärzen. Sie versuchen sich in der Anonymität blinder Gesichter aufzulösen, erzeugen ein Wachsfigurenkabinett. Wenn das Aussehen des Ermordeten vernichtet ist, geben sie ihm ein neues, das ihnen weniger schrecklich erscheint. Dazu dient ihnen eine Perücke, ein Kleid oder Unterwäsche. Sie sprechen mit ihren Opfern, bestrafen sie, vergewaltigen oder belohnen sie. Sie sind allmächtig. Sie sammeln Leichen, leben in einem Haus voll toter Puppen. Das ist Marias Arbeitshypothese. Jetzt muss die Puppe Rachel gefunden werden. Da Maria mit diesem Tätertyp vertraut ist, gibt sie sich keinen großen Illusionen hin – niemand überlebt die Launen eines solchen Puppenbeherrschers lange.
Eine Polizeisirene ertönt in der Dunkelheit. Der Wagen verlangsamt seine Fahrt. Maria richtet sich wieder auf und sieht in der Ferne die Lichtorgeln mehrerer Einsatzwagen. Der Chevrolet ist an der Waldkreuzung von Hastings angekommen.
19
Sie halten am Straßenrand neben Rachels altem Ford Pick-up mit abgefahrenen Reifen, den sie dort abgestellt hat, um zu Fuß in den Wald einzudringen. Im Scheinwerferlicht der anderen Einsatzfahrzeuge sieht man Bannerman, der trotz des strömenden Regens draußen wartet. Maria tritt zu ihm und nimmt den Becher Kaffee an, den er ihr anbietet. Bei jeder Kopfbewegung läuft ihm das Regenwasser, das sich in der Krempe seines Huts gesammelt hat, bis auf die Stiefel herunter. Einzelne Tropfen rinnen ihm über das Gesicht, wie Tränen.
Nach dem ersten Schluck Kaffee verzieht Maria das Gesicht. Sie nimmt den Deckel von dem Becher und schnuppert an der Brühe. Riecht nach Urin. Sie gießt den Rest in eine Pfütze und bittet Bannerman um eine Zigarette. Er steckt sie ihr zwischen die Lippen.
»Hast du keine dunkle?«
»Dunkle rauche ich nicht, die bumse ich nur.«
Maria steckt sich die Zigarette mit dem Feuerzeug an, das er ihr hinhält, wobei sie die Flamme mit der hohlen Hand vor dem Regen schützt. Sie nimmt einen tiefen Zug.
»Gibt es Hinweise?«
»Nicht viele. Rachel hat eine Fährte entdeckt, der sie alleine folgen wollte. Hier hatte sie sich mit dem Kerl verabredet. Als er hier aufgetaucht ist, hat sie eine Mitteilung auf meine Mailbox gesprochen. Ihr Telefon war bis zum letzten Augenblick mit mir in Verbindung.«
»Und weiter?«
»Was soll weiter sein? Der Bursche ist unser Mörder. Willst du es dir anhören?«
Maria hat nicht die geringste Lust dazu. Trotzdem hält sie sich Bannermans Telefon ans Ohr, schließt die Augen und hört konzentriert zu, was Rachel zu sagen hatte.
∗ ∗ ∗
Prasselnd fällt Regen auf das welke Laub. Schritte knirschen auf dem Kies. Stille. Dann Rachels Stimme. Sie sagt, sie habe sich mit einem Informanten verabredet. Es sei kalt. Sie schlägt die Autotür zu und geht durch das Gras am Straßenrand. Maria hört das Geräusch eines Feuerzeugs dicht am Telefon. Dann zerknittert Rachel offenbar ihre leere Zigarettenschachtel und lässt sie auf die Straße fallen.
Maria richtet ihre Taschenlampe einige Meter vor sich auf den Asphalt. Der Lichtkegel erfasst einen zusammengeknüllten kleinen roten Karton. Marlboro. Das Telefon am Ohr, entfernt sie sich von Bannerman und folgt den Fußspuren, die Rachel im Schlamm hinterlassen hat, während sie wartend auf und ab gegangen ist.
Wieder ertönt Rachels Stimme. Sie sagt, dass sich Scheinwerfer nähern. Maria läuft ein Schauer über den Rücken. Einen solchen Schauer dürfte auch Rachel beim Anblick des herankommenden Wagens empfunden haben. Rachel sagt, sie werde das Telefon in ihre Brusttasche stecken. Einige Pieptöne: Sie hat die Empfindlichkeit des Mikrofons auf größte Lautstärke gestellt. Das Scheuern des Telefons am Stoff. Der Reißverschluss der Tasche
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