Das Evangelium nach Satan
Kleidung die Haut liebkost! Sie sieht zu Rachel hin, deren Augen sich vor Entsetzen weiten und die leise jammert, als spräche sie mit Maria: »Großer Gott, ich komm hier nicht weg.«
Rachel entfernt sich. Ihr Umriss entschwindet zwischen den Bäumen. Das Rauschen des Regens. Stille. Jemand geht durch das nasse Laub. Maria dreht sich um. Eine weitere Gestalt zeigt sich in der Schwärze, so groß und so finster, dass die Nacht um sie herum weniger dunkel erscheint. Was da auf sie zukommt, ist die Nacht selbst. Der Beherrscher der Puppen. Maria spürt das absolute Böse seiner Seele. Er ist gelassen. Ihm ist bewusst, dass seine Beute nicht die geringste Aussicht hat zu entkommen. Er kommt näher. Er ist da.
Er trägt einen Ledermantel und Handschuhe. Unter einer weiten Mönchskapuze ist sein Gesicht nicht zu erkennen. Mit einem Mal bleibt er in der Nähe des Tisches stehen, an dem Maria sitzt und zu ihm hinsieht. Man könnte sagen, er zögert, ob er seinen Weg fortsetzen soll. Er hat etwas entdeckt. Er schnüffelt. Ein Raubtier, das Witterung aufnimmt. Nein. Maria will die Augen schließen, um die Vision zu beenden. Zu spät. Während er immer weiter schnüffelt, wendet er sich ihr zu. Eine Atemwolke dringt zwischen seinen Lippen hervor. Aber nein, das ist ein Lächeln. Sieh zu, dass du von hier wegkommst, Maria!
Das Wesen sieht sie an. Sie spürt die Schwärze seiner Seele, merkt, wie es in ihren Geist einzudringen versucht, um festzustellen, wer sie ist. Eine Stimme kommt unter der Kapuze hervor, eine leblose Stimme, die Wörter in einer unbekannten Sprache von sich gibt. Zahllose Fragen hallen wie Gebell in ihrem Geist, behindern sich gegenseitig. Der Mann ist wütend, doch unter der Wut des Mörders spürt Maria etwas anderes, eine Empfindung, die er zu verbergen versucht. Dann begreift sie schlagartig: Er hat Angst. Einen Anflug von Angst im Ozean seiner Wut. Das ist eine in dieser Schwärze so befremdliche Empfindung, dass sie Marias Geist erstarren lässt. Wut und Angst nähren den Hass. Nachdem sie begriffen hat, dass sie gegen einen solchen Mörder nichts auszurichten vermag, konzentriert sie alle Kräfte darauf zu verhindern, dass er ihrer Seele Gewalt antut. Aber er ist weit stärker als sie. Gerade, als ihre seelische Widerstandskraft zu erlahmen droht, zerreißt ein Aufschrei aus der Ferne die Stille. Rachel ist gestürzt; sie hat sich verletzt.
Erneut macht sich der Mörder auf den Weg. Er ist ausgehungert. Marias Finger krallen sich ins Holz der Tischplatte. Die Vision ist zu Ende. Das letzte Bild zerplatzt wie eine Glasscheibe, gegen die jemand einen Stein geworfen hat. Sie hört nur noch das Prasseln des Regens. Das Heulen des Windes.
23
Maria beugt sich vor, um sich zu übergeben. So ist es immer nach einer Vision. Ein Stich wie mit einem Dolch. Der Magen krampft sich zusammen und schleudert das Entsetzen heraus, das sich mit den Bildern angesammelt hat. Dann lässt der stechende Schmerz nach, doch Angst und Migräne bleiben.
Dort, wo sich Maria jetzt befindet, war Rachel vor ihr. Sie hat die Lichtung überquert und ist dann auf der anderen Seite zwischen den Bäumen in den Wald eingetaucht. Maria steht auf und beginnt zu laufen. Während sie die Unterarme zum Schutz gegen die peitschenden Äste vor das Gesicht hält, läuft sie in die Dunkelheit hinein. An diesem Baum ist Rachel vorübergekommen. Noch trägt er die Spur der Erinnerung an sie. Sie hat den Stamm eines anderen Baums berührt und sich an einen dritten gelehnt. Auch Maria lehnt sich einen Augenblick daran und schließt die Augen.
Szenenwechsel.
Rachel kann nicht mehr. Die Erschöpfung hat alle Luft aus ihrer Lunge gepresst. Ihr ist übel. Sie möchte am liebsten sterben. Könnte sie doch ihrem Herzen befehlen, einfach stehen zu bleiben! Ameisen tun das, wenn sie einem Räuber nicht entkommen können. Aber diese Fähigkeit besitzt sie nicht. Das verdammte Herz schlägt weiter. Hinter ihr ein Geräusch. Sie beginnt, wieder zu laufen. Undeutlich schimmert ihre nasse Haut zwischen den Bäumen.
Wie Rachel läuft jetzt auch Maria wieder durch das Unterholz, ohne etwas zu sehen. Sie spürt, wie die Angst ihre Beine schwer werden lässt und ihren Atem lähmt. Rauschen im Ohrhörer, dann Bannermans Stimme: »Hörst du mich, Maria?«
Sie läuft, ohne zu antworten. Sie folgt einem sandigen Weg, den Rachels Füße gefunden haben, auf dem sie schneller laufen kann. Sie sieht die Abdrücke ihrer nackten Fußsohlen. Auch Maria läuft, so
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