Das Evangelium nach Satan
entlangschlängelt. Dumpf hallen ihre Schritte auf den alten Steinplatten voll Moos. Sie hat den Vorplatz der Kirchenruine erreicht. Ein von Rost zerfressener Gekreuzigter sieht ihr zu, wie sie über den Trümmerhaufen hinwegklettert, der dort liegt, wo einst der Eingang war.
Durch die Überreste der geschwärzten Balkendecke fällt das Licht der Sterne in das Kirchenschiff. Verkohlte Bänke und verfaulte Betstühle bedecken den Boden. Es riecht nach Moder und Holzkohle. Maria schließt die Augen und fängt das ferne Echo der Schreie ein, die diesen Ort noch erfüllen. Ihr fällt ein alter Zeitungsartikel ein, den sie auf dem Dachboden ihres Elternhauses gefunden hatte. Weihnachten 1926. Die Nacht, in der das Kirchendach während der Christmette die Gemeinde unter sich begraben hat. Gerade, als dreihundert Gläubige das Ave Maria anstimmten, war der alte Heizkessel der Kirche in die Luft geflogen. Die Flammen hatten erst die Samtvorhänge an den Wänden und dann den Dachstuhl in Brand gesetzt, woraufhin die ganze Konstruktion in sich zusammengebrochen war. Männer in Gehröcken und gepuderte Frauen waren über Greise hinweggestürmt, um die schweren Eisentüren zu erreichen, die der Sakristan verriegelt hatte, damit die Kinder der Kirchenbesucher auf dem Friedhof keinen Unfug trieben. Das Geheul der bei lebendigem Leibe Verbrennenden.
Maria öffnet die Augen wieder. Das Geheul hat aufgehört. Sie hört, wie der Wind über die Balkenreste pfeift. Welkes Laub tanzt zwischen den umgestürzten Betstühlen. Völlige Stille.
Sie sucht sich ihren Weg durch die Schuttberge. Der Lichtkegel ihrer Taschenlampe streift den rußigen Boden voller Metallstücke, Leichen von Fledermäusen und Splitter der Buntglasfenster. Mit einem Mal sieht sie frische Blutstropfen auf den Steinplatten. Sie konzentriert sich und fängt in der Ferne ein Geräusch auf – Regenwasser, das irgendwohin abläuft. Sie geht um den Chor herum und strebt auf ein finsteres Rechteck zu, das sich im Hintergrund abzeichnet. Eine Art Vorhang. Hier hören die Blutstropfen auf. Sie schiebt das Gewebe mit den Fingerspitzen beiseite und richtet ihre Taschenlampe auf die Fläche dahinter. Dort aber ist es so finster, dass sie kaum etwas erkennen kann. Immerhin sieht sie, dass eine Treppe in die Dunkelheit hinabführt. Als sie sich vorbeugt, trifft sie der Fäulnisgeruch, der aus der Tiefe emporsteigt, wie ein Fausthieb. Weihrauch und totes Fleisch, der Atem alter Gräber. Ein süßlicher Gestank dreht ihr den Magen um. Sie kämpft einen Augenblick lang gegen das Entsetzen an, das sich ihrer bemächtigen will. Sie darf ihm auf keinen Fall nachgeben. In ihrem Ohrhörer rauscht es wieder. Leise hört sie Bannermans Stimme, abgehackt und von ferne: »Maria … wir sind jetzt auf der Lichtung … wo finde ich die nächsten Wollfäden?«
Rauschen, Knistern, Störgeräusche.
»Verdammt noch mal, Maria, in welche Richtung bist du gegangen?«
Sie flüstert in ihr Funkgerät: »Ich habe eine Treppe gefunden.«
»Was sagst du da? Der Empfang ist nicht besonders gut. Was hast du da gefunden?«
»Eine Treppe in einer Kirchenruine.«
»Zum Henker, Maria, wo sind deine Wollfäden? Bleib, wo du bist, und warte auf uns. Da stimmt was nicht! Das ist zu einfach!«
Im Laufschritt sucht er nach Spuren, die Maria hinterlassen hat, findet keine. Atemlos ruft er in sein Funkgerät: »Verdammt, Maria, das ist eine Falle! Hörst du mich? Ich bin sicher, dass das eine verfluchte Falle ist!«
Aber sie hört nichts mehr. Der alte staubige Vorhang hat sich hinter ihr geschlossen.
26
Maria steigt die Stufen hinab, wobei sie darauf achtet, nicht auszugleiten. Es kommt ihr vor, als atme sie durch eine Plastiktüte, so dicht ist die unbewegliche Luft um sie herum mit dem Gestank nach totem Fleisch angefüllt. Es ist warm. Wassertropfen fallen zu Boden und hallen in der Stille.
Sie hört, wie sich in der Dunkelheit Dinge bewegen und näher kommen. Sie tastet sich an der Mauer entlang. Als sie mit den Fingerspitzen auf Spinnennetze stößt, erfasst sie ein Zittern. Sie schließt die Augen, sagt einen Abzählreim vor sich hin, um nicht in Panik zu verfallen. Über ihr raschelt etwas. Das Geräusch zahlloser kleiner Füßchen von irgendwelchem Getier, das an der Decke entlangläuft. In dem Augenblick, wo sie den Kopf hebt, landet ein pelziges Wesen auf ihrem Gesicht und klammert sich daran fest. Harte, glatte Pfötchen tanzen über ihre Lippen und erklimmen ihre Wange. Maria unterdrückt
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