Das Evangelium nach Satan
gerannt waren, merkten sie rasch, dass sie zu spät kamen. Verraten hatten ihnen das die gedämpften Geräusche des Waldes, die lastende Stille und die Klage des Windes in den Baumwipfeln. Maria war nicht mehr dort.
Der Sheriff lehnt sich an einen Mauerrest und holt tief Luft. Dann hält er das Funksprechgerät noch einmal vor den Mund. »Maria, hörst du mich?«
Er lässt den Sprechknopf los. Störungen. Rauschen. Vor allem Schweigen. Er sieht auf die Uhr. Sie hat sich schon viel zu lange nicht gemeldet. Der ganze unnötige Schlamassel wegen so einem Quatsch. Ein Medium will sie sein, dass ich nicht lache! Nach Rachels Verschwinden hatte Bannerman alles auf diese eine Karte gesetzt, weil er hoffte, dass sie noch lebte und Maria sie retten könnte. Nur deshalb hatte er sich damit einverstanden erklärt, sie allein mit dem erbetenen Vorsprung in den Wald gehen zu lassen. Jetzt hatte er das Gefühl, sie selbst ins Schlachthaus geschickt, ihr mit eigener Hand eine Kugel in den Kopf geschossen zu haben. Mit diesem schlechten Gewissen würde er leben müssen, ähnlich wie Autofahrer, die ein Kind auf einem Zebrastreifen totfahren, weil sie nicht aufgepasst haben und danach jede Nacht schreiend aufwachen. Bestimmt würde er in seinen Träumen immer wieder sehen, wie Maria in den Wald eindrang, ihre Gestalt allmählich zwischen den Bäumen verschwand, ihre Stimme in der Dunkelheit immer schwächer wurde.
Er öffnet den Verschluss seines Gewehrs und drückt ein Dutzend Patronen ins Magazin. Attacke der Schweren Reiter im Morgengrauen. Das hat Maria verdient. Schlimmstenfalls kann er sich wenigstens den Kopf des Mörders als Trophäe über dem Kamin an die Wand hängen.
Gerade, als er den Befehl zum Sturm auf die Ruine geben will, klingelt sein Mobiltelefon. Barney, sein Stellvertreter, meldet, dass soeben Leute vom FBI aus Boston angerufen haben. Die Bundespolizei habe einen Hubschrauber mit Scharfschützen losgeschickt, der unmittelbar an der Ruine landen würde.
»Verdammt noch mal, Barney, wieso hast du denen gesagt, wo wir sind?«
»Hab ich nicht, Chef. Die haben Maria angepeilt.«
»Was sagst du da?«
»Na ja, alle Ermittler der Bundespolizei haben im Einsatz einen Peilsender dabei, den sie bei Todesgefahr einschalten. Als mich die Leute angerufen haben, hatte Maria das gerade getan.«
»Von wo aus?«
»Dem schwachen Signal nach muss sie sich ein paar Dutzend Meter unter der Erde befunden haben.«
»Von mir aus – aber wo steckt sie, zum Teufel?«
»Wahrscheinlich unter den Trümmern der alten Kirche dahinten im Wald.«
Schweigen. Dann sagt Barney etwas.
»Noch was, Chef. Die Jungs vom FBI haben gesagt, dass sie jetzt wissen, was für ’ne Art Mörder das ist.«
»Ja, und?«
»Deshalb wäre es besser, haben sie gemeint, dass Sie sich mit Ihren Leuten da raushalten.«
Ein unverkennbares Knattern in der Ferne. Bannerman hebt den Blick und sieht einen Hubschrauber, der sich auf Baumwipfelhöhe nähert. Er schluckt heftig, um den Kloß in seiner Kehle loszuwerden. Dann schaltet er auf eine andere Frequenz und stellt sein Funksprechgerät auf höchste Feldstärke ein.
»Maria, ich bin’s, Bannerman. Ich weiß, dass du irgendwo da unter der Erde bist und vor Angst umkommst. Ich hab keine Ahnung, ob du mich hören kannst, das ist mir aber auch egal. Auf jeden Fall rede ich jetzt immer weiter, damit du meine Stimme hörst und durchhältst, bis dich deine Kollegen vom FBI da rausgehauen haben. Tu mir den Gefallen, Maria, versuch durchzuhalten.«
30
Plitsch-Platsch.
Tropfen fallen auf den Boden. Maria zittert. Irgendwo in ihrem Inneren leuchtet ein winziges Fünkchen auf. Wie in einem dunklen Raum, in dem eine Leuchtstoffröhre nach der anderen knisternd anspringt und die Dunkelheit verjagt, wacht ihr Gehirn auf. Aus großer Ferne hört sie das Geräusch der Tropfen. Langsam kehrt sie in die Gegenwart zurück, nimmt ihren Körper wahr, ihre Arme, ihre Beine. Sie spürt das sonderbare und schmerzhafte Ziehen in ihren Muskeln.
Wumm.
Ein neues Geräusch, sehr viel lauter. Wie Hammerschläge gegen eine Mauer. Nein, auf Holz. Die hallende Klage von Balken, auf die ein Zimmermann mit aller Kraft einschlägt. Der Aufprall von Metall auf Holz und das Knirschen, mit dem ihm Nägel ins Herz dringen. Maria spürt, wie ihre Angst wächst. Sie breitet sich aus wie Tinte in klarem Wasser. Ihr Geist, der allmählich wieder die Welt um sich herum wahrnimmt, bemüht sich verzweifelt, erneut einzuschlafen, um sich dem
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