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Das Evangelium nach Satan

Das Evangelium nach Satan

Titel: Das Evangelium nach Satan Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Patrick Graham
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das Bedürfnis herauszuschreien und schlägt nach dem Tier, sodass es loslässt. Dann setzt sie vorsichtig den Fuß auf die nächste Stufe und spürt, wie er in etwas Weichem versinkt. Es windet sich und zerplatzt dann wie ein reifes Stück Obst. Das Blut erstarrt ihr in den Adern. Etwas wimmelt an der Decke und unter ihren Füßen: weiche, klebrige Lebewesen, die nach ihren Haaren greifen, winzige muskulöse Beine, die an den Wänden entlanglaufen und sie in die Hände beißen wollen. Ein Nest von Taranteln. Sie geht weiter über die Spinnen hinweg, welche die Stufen bedecken, und stößt Schreckenslaute aus, während sie mit den Armen um sich schlägt, um die wegzuschleudern, die sich an ihren Handgelenken festgesetzt haben. Auf keinen Fall darf sie hinfallen.
    Je tiefer sie steigt, desto stärker wird der Geruch, der daran gemahnt, dass sie sich in einem Massengrab befindet. Die Wände scheinen unter ihren Fingern nachzugeben. Ganze Trauben von Ungeziefer laufen ihr über die Ärmel. Sie gelangt ins Innere der Erde. Die Erde, welche die Menschen verzehrt. Es kommt ihr vor, als gehe sie schon seit Stunden so. Sie weiß selbst nicht mehr, ob sie abwärts oder aufwärts steigt. Kann man sich denn überhaupt auf einer Treppe verlaufen?
    Als ihre Füße wieder auf ebenen Boden stoßen, befindet sie sich in einer Art Stollen. Der glatte Boden ist gepflastert. Sie beeilt sich, den finsteren Schlund der Treppe möglichst rasch hinter sich zu lassen. In der Ferne sieht sie den gelblichen Schein einer Fackel.
    Von diesem Licht angelockt wie ein Nachtfalter, tastet sie sich durch den Gang. Der Geruch nach Massengrab beklemmt sie. Es kommt ihr vor, als gehe sie durch einen dichten Nebel, der ihre Kleider tränkt und tief in ihre Kehle dringt.
    Im Licht der Fackel erkennt sie nacheinander den feucht glänzenden Boden und die grauen Wände. Außerdem sieht sie die Fäden von Pflanzenwurzeln, die durch das Deckengewölbe gedrungen sind. Als sie den Blick senkt, fallen ihr am Boden frische Blutstropfen auf. Daher also waren die Spinnen wie verrückt: Sie hatten das Blut gerochen, das Rachel verloren hatte, während der Mörder sie die Treppe hinabschleppte. Vom Geruch des frischen Fleisches angelockt, hatten sie sich darauf gestürzt, um das Blut zu trinken. Maria zittert. Ihr ist klar, dass die Spinnen sie nicht wieder hinauslassen werden.
    Endlich ist sie in den Lichtschein getreten. Am Ende des Gangs befindet sich eine mit schweren Eisenstäben verstärkte Kerkertür. Sie knarrt, als Maria sie aufstößt. Die Fackel flackert im warmen Luftzug, der aus der Öffnung dringt.

27
    Jetzt hat Maria eine riesige Krypta betreten. Das zuckende Licht Hunderter halb herabgebrannter Kerzen wirft riesige Schatten, die über die Wände zu tanzen scheinen.
    Ihre Augen gewöhnen sich an das dämmrige Licht der Krypta. Ihr gegenüber befindet sich ein Gang mit Mosaikboden, zu dessen beiden Seiten hölzerne Bänke stehen. Sie kneift die Augen zusammen und erkennt Umrisse auf den Betstühlen. Sie merkt, wie ihr Herz aussetzt: Dort knien Menschen, vorgebeugt, mit gefalteten Händen und in sich zusammengesunken. Es sind verweste Leichen mit langen Haaren und krallenartigen Fingernägeln, Honoratioren im Gehrock und ausgemergelte alte Damen mit Handtasche, Rosenkranz und staubbedecktem Messbuch. Die Messe der Toten. Daher also der widerliche Gestank.
    Maria folgt dem Mittelgang. Ihre Schritte hallen in der Stille wider, ihre Hände zittern. Sie hat sich getäuscht: Der Mörder ist kein Puppenherrscher, sondern ein Mystiker, ein religiöser Eiferer. Jemand, der Gottes Stimme hört. Sie entsichert ihre Pistole und geht rückwärts, um alles besser im Auge zu behalten. Je weiter sie in den Gang eindringt, desto besser erhalten sind die Leichen, an denen sie vorüberkommt. Schwarzes Fleisch, der Stille der Gräber entrissen.
    Wolken von Insekten summen im zitternden Licht der Kerzen. Sie hebt die Augen und bleibt einen Augenblick stehen. Ganze Trauben von schlafenden Fliegen bedecken das Gewölbe der Krypta, während sich andere an den Leichen gütlich tun. Aber das ist noch nicht alles. Ihr Blick fällt auf fünf riesige Kreuze an den Wänden rund um den Altar. Das in der Mitte wird von Fackeln erhellt. Es ist leer. Die beiden jeweils links und rechts davon sind von Fliegen übersät.
    Reglos steht Maria am Fuß des Altars. Sie bringt es nicht fertig, den Blick von den vier menschlichen Gestalten zu lösen, die an diese Kreuze genagelt sind. Die

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