Das Evangelium nach Satan
Fackeln zeigen deutlich ihre Gesichter: Mary-Jane Barko, Patricia Gray, Sandy Clarks und Dorothy Braxton – die vier aus Hattiesburg verschwundenen Frauen. Nach dem Grad der Verwesung zu urteilen, sind sie jeweils gleich am Tag ihres Verschwindens getötet worden.
Ein Stöhnen in der Dunkelheit. Maria wendet sich um und sieht eine nackte Gestalt. Sie kniet in der ersten Bank, als einzige. Die Bänke dahinter sind voller Leichen, die in die Stille hineinhorchen.
Maria tritt näher. Es ist Rachel. Sie hat die Stirn auf die Hände gesenkt, kniet auf dem Holz des Betstuhls. Maria tritt noch näher heran und berührt Rachels Haare. Die blonden Locken wickeln sich um ihre Finger und fallen geräuschlos aus wie Puppenhaar. So groß ist Rachels Angst, dass ihr die Haare ausfallen. Ihre Schultern bewegen sich. Sie reckt den Kopf. Maria beißt sich auf die Unterlippe. Die Augenhöhlen sind leer, zwei blutige Löcher, die ins Leere starren. Ihre leise, verängstigte Stimme hallt in der Dunkelheit. »Bist du das, Papa?«
»Rachel, ich bin es, Maria.«
»Ach, Maria, ich sehe dich nicht.«
Während Maria unaufhörlich mit ihrer Pistole die Dunkelheit bestreicht, sagt sie »Pst« in Rachels Ohr. Dann legt sie ihr den Arm um die Schultern und versucht, sie aufzuheben. Dabei stöhnt Rachel vor Schmerzen auf. Maria begreift. Sie sieht die Nägel, die durch Rachels Handgelenke und Ellbogen geschlagen sind, die verrosteten Nägel durch ihre Schienbeine, die sie auf dem Betstuhl festhalten. Nägel mit großen Köpfen, die tief ins Holz gedrungen sind.
»Großer Gott, Rachel … Wer hat das getan?«
»Kaleb.«
»Kaleb? Heißt er so?«
Schweigen. Maria flüstert: »Rachel, wo ist Kaleb jetzt?«
Die leeren Augenhöhlen starren Maria an. Rachel möchte etwas sagen. Maria sieht die eingeschlagenen Zähne zwischen den Lippen. Rachel weint. Nein, sie gluckst. Es ist ein Lachen, das Maria erstarren lässt. Rachel hat den Verstand verloren.
»Er wird dich umbringen, Maria. Er wird dich fassen und umbringen. Aber vorher nagelt er dich neben mir fest. Er nagelt dich an, und dann werden wir gemeinsam beten. Wir werden bis in alle Ewigkeit für ihn beten. Er kommt, Maria. Er ist da.«
Maria hat gerade noch Zeit, den Kopf zu drehen und den riesigen Umriss zu erkennen, der aus der Dunkelheit auftaucht. Dann ein Schlag in ihren Nacken, der ihr die Beine unter dem Leib wegreißt. Ein weißer Blitz. Rachel verzieht das Gesicht zu einem teuflischen Grinsen. Ihre Stirn liegt auf den Händen. Ihre Lippen bewegen sich. Man könnte sagen, dass sie betet. In Marias Ohrhörer rauscht es. Von Störungen unterbrochen, hört sie ein letztes Mal Bannermans Stimme. Sie kam gerade noch dazu, den Peilsender in ihrer Tasche einschalten, dann erlischt das tanzende Licht der Kerzen.
28
Stille. Es kommt Maria vor, als treibe sie in der Tiefe eines Ozeans. Fern über ihr, sehr fern, schimmert das blaue Wasser. Die von der Sonne beschienene Meeresoberfläche, wie ein leuchtender Punkt, den man durch eine Glasscheibe sieht. So fern.
Sie sinkt in reglose Tiefen. Sie friert. Das bläuliche Licht erlischt, Finsternis hüllt sie ein. Ihre Nervenenden lösen sich eine nach der anderen. Keine einzige Empfindung erreicht ihren Geist. Unmengen schwarzen Wassers, das sie geschluckt hat, dringen ihr in die Lunge und ersticken sie. Ihr Herz schlägt kaum noch. Kein Geräusch mehr, kein Atemzug. Maria liegt im Sterben.
29
Der Morgen dämmert. Völlig außer Atem erreichen die Männer die Kirchenruine. Sobald sie begriffen hatten, dass es Marias Absicht war, sich geradewegs in die Höhle des Löwen zu begeben, hatten sie sie in schnellem Lauf einzuholen versucht. Um die Fährte nicht zu verlieren, hatten sie eine Meute Hubertushunde mitgenommen, als gelte es, eine Hetzjagd auf den Hirsch zu veranstalten, und die Tiere mit ermunternden Worten angetrieben. Damit sie auch im Dickicht und in Brombeerbüschen suchen konnten, hatten sie sie an der langen Leine geführt.
Auf der Lichtung waren die Hunde in der Nähe des Tisches stehen geblieben, an den sich Maria gesetzt hatte. Bannermans Suche nach roten Wollfäden blieb ergebnislos. Mit gesträubtem Nackenhaar und gesenkter Rute hatte eins der Tiere die Fährte des Mörders aufgenommen, dann aber war die Meute einer frischeren Spur gefolgt, die der Leithund zwischen den Bäumen entdeckt hatte. Ein Sandweg. Endlich ein roter Wollfaden, eine Ruine in der Ferne. Obwohl Bannerman und seine Männer noch nie im Leben so schnell
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