Das Evangelium nach Satan
riesiger Friedhof aus Zweigen und Moos. Nicht der leiseste Hauch bewegt die Zweige. Nicht einmal das Rascheln des Laubs unter den Sandalen vermag die lähmende Stille zu stören.
In fast jeder der Hütten, an denen die beiden vorüberkommen, liegen die aufgedunsenen Leichen derer in ihren Hängematten, die der Tod von einer Sekunde zur anderen ereilt hat. Als Einziger hat Alameda überlebt, ein halb verrückter Trinker.
Mit einem Mal scheint der Urwald vor Carzos Augen auszutrocknen. Die dichte graue Lepra ist bis an die Missionsstation herangerückt. Lianen, die früher vor Saft strotzten, hängen wie Tauenden herab. Auch der Erdboden hat seine Farbe gewechselt. Als hätten die beiden Geistlichen eine unsichtbare Grenze überschritten, verliert das Licht, das durch das Astwerk fällt, mit einem Schlag jeden Glanz. Carzo hebt die Hände vor die Augen. Alles um ihn herum hat jetzt die gleiche Aschefarbe angenommen, die den Wald einhüllt, von seinen Fingerspitzen bis zum blassen Grün der Knospen.
»Da.«
Als er in die von Alameda angegebene Richtung blickt, erkennt er, dass der Weg an einer Steilwand endet, an deren Fuß eine Öffnung zu sehen ist. Dieser Eingang zu einem präkolumbianischen Tempel ist Generationen von Forschungsreisenden entgangen, weil ihn die Vegetation überwuchert hatte. Jetzt scheinen die Bäume um das Bauwerk herum bis auf den Erdboden heruntergebrannt zu sein, so, als habe dort ein gewaltiges Feuer getobt.
Carzo kneift die Lider zusammen und sieht, dass der Eingang ursprünglich mit einer Mauer aus Steinblöcken verschlossen gewesen war. Jetzt klafft eine große Lücke darin. Vermutlich hatte man zur Errichtung der Mauer einen Mörtel aus getrocknetem Schlamm und Stroh verwendet, der nicht besonders haltbar war. Die beiden Säulen links und rechts des Eingangs zeigen das Antlitz uralter Gottheiten – Quetzalcóatl, der Gott des Waldes, und Tlaloc, der Gebieter des Regens, auch als Achter Herr der Tage und Neunter Herr der Nächte bekannt. Carzos Herz stockt. Ein Aztekentempel.
»Was gibt es da drin?«
Alameda meidet den Blick des Exorzisten und scheint in den Anblick der Nebelwölkchen versunken, die aus dem Schlund des Tempels hervorkommen. Als sich Carzo mit leiser Stimme erneut an ihn wendet, um ihn zu fragen, wann er die Besessene zum letzten Mal gesehen hat, beginnt der Missionar am ganzen Leibe zu zittern.
»Vor einer Woche.«
»Hatte sie da schon angefangen, sich zu verwandeln?«
Das Lachen, das Alameda daraufhin anstimmt, lässt Carzos Blut erstarren.
»Sich zu verwandeln? Gott im Himmel, schon eine Woche vorher waren ihre Beine gekrümmt wie die eines Tieres, und ihr Gesicht sah aus wie …«
»Wie was, Alameda? Wie sah ihr Gesicht aus?«
»Wie das einer Fledermaus. Können Sie sich das vorstellen? Eine verdammte Fledermaus.«
»Beruhigen Sie sich, Alameda.«
»Ich soll mich beruhigen?«
Er packt Carzos Schultern so heftig, dass dieser vor Schmerz das Gesicht verzieht.
»Wir werden ja sehen, ob Sie es fertigbringen, ruhig zu bleiben, wenn Sie da reingehen. Ich hab mir in die Hose gemacht wie ein kleines Mädchen, als ich das da drinnen gesehen habe.«
»Hat es mit Ihnen gesprochen?«
Alameda scheint vor Angst wie versteinert. Carzo wiederholt: »Ob es mit Ihnen gesprochen hat?«
»Es hat mich gefragt, was ich dort wollte. Gott im Himmel, Sie hätten die Stimme hören sollen, mit der das Wesen gefragt hat …«
»Und was haben Sie geantwortet?«
»Ich … ich weiß nicht mehr … Ich glaube … nein, ich erinnere mich nicht.«
»Und hat es Sie berührt?«
»Ich weiß nicht …«
Carzo packt den Missionar am Kragen seiner Soutane.
»Zum Kuckuck, Alameda. Hat es Sie berührt, ja oder nein?«
Gerade, als Alameda den Mund zu einer Antwort öffnet, dringt ein langgezogenes Heulen aus den Tiefen der Erde. Vor Carzos Augen werden die Haare des Missionars von einem Augenblick auf den anderen weiß, und sein Gesicht verzerrt sich zu einer Fratze. »Hören Sie? Es brüllt Ihren Namen. Es hat Hunger. Großer Gott! Es stirbt vor Hunger.«
»Alameda, hat es Sie berührt?«
»Es hat meine Seele in sich eingesogen, Carzo. Es hat mir gezeigt, dass ich nie hätte da reingehen dürfen, und dann hat es die Flamme gelöscht, die in mir brannte.«
»Was hat es Ihnen gezeigt?«
»Das werden Sie bald wissen, Hochwürden. O ja, es wird Ihre Seele verschlingen, und dann werden Sie es wissen.«
Carzo lässt Alamedas Soutane los, entzündet eine Fackel und tritt in den Tempel.
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