Das Evangelium nach Satan
früher finden als er selbst – immer auf die Gefahr hin, sich auf alle Zeiten darin zu verirren.
Das wäre Maria im Fall Gillian Ray beinahe widerfahren. Dieser Student aus New York hatte sich in den Semesterferien zwei Monate Urlaub in Australien geleistet und dabei per Anhalter den Kontinent auf den endlos langen Straßen durchquert, die mitten durch die furchtbarsten Wüstengebiete der Erde führen. Zweitausenddreihundert Kilometer durch glühend heißen Sand, Geröll und öde Hochebenen zwischen Darwin und Cape Nelson … Das Ergebnis dieser zwei Monate waren elf Tote gewesen, die er den Aasfressern und Schlangen überlassen hatte.
7
Carzo betätigt einen unter dem Altar verborgenen Hebel und sieht, wie das Standbild des heiligen Franziskus von Assisi auf seinem Sockel beiseitegleitet. Eine schmale Öffnung in der Wand gibt einen Geheimgang zu den Räumen unterhalb des Kirchenschiffs frei, dessen Existenz außer den Jesuiten von Manaus nur ihm bekannt ist. Als hätte er etwas geahnt, hatte ihm Pater Jacomino einige Monate zuvor dieses Geheimnis anvertraut.
Der Exorzist zwängt sich durch die Öffnung und betätigt auf der Innenseite einen weiteren Hebel, um den Zugang zu verschließen. Er hört, wie sich das Standbild über den Sockel schiebt. Ein stumpfes Knacken, dann Stille. Während er auf die Stufen der Treppe tritt, hört er das Heulen aus der Ferne genauer: Es sind Entsetzens-und Leidensschreie auf Portugiesisch und Latein. Ein Orkan von Stimmen, die einander antworten, ins Wort fallen und zurückhallen. Nach dem zu urteilen, was er da hört, muss es sich um eine kollektive Teufelsaustreibung handeln, eine verbotene Zeremonie, wie man sie seit den finstersten Tagen des Mittelalters nicht mehr durchgeführt hat.
Unten trifft er auf ein Gewirr von Gängen. Er orientiert sich am Geheul und folgt dem breitesten Gang. Fackeln, deren Lichtschein über die Wände zuckt, erhellen ihn.
Prüfend zieht Carzo die Luft ein. Der Geruch des Bösen überlagert hier den des heiligen Harzes bei Weitem. Die Jesuiten haben das Untier wohl am Ende des Gangs in die Enge getrieben, aber aufgegeben hat es noch nicht.
Ein lauwarmer Hauch umspielt Carzos Knöchel. Er senkt den Blick. Aus Öffnungen im Boden, die im Dunkeln liegen, kommt ein ununterbrochener Luftstrom – Lüftungsschächte. Hier befinden sich die Kerkerzellen, in denen die Portugiesen, als sie das Gebiet erkundeten, Ureinwohner und Flusspiraten eingesperrt haben. Im Inneren dieser Zellen erkennt der Priester im flackernden Licht der Fackeln rostige Ketten und die eisernen Ringe, die man den Häftlingen einst um den Hals gelegt hat. Er hält eine Fackel zwischen die Gitterstäbe. Aufgeschreckt eilen Ratten davon. Er streckt den Arm so weit wie möglich aus und entdeckt in die Mauern geritzte Wörter: Beschimpfungen, Abschiedsworte, aber auch die Reihen von Strichen, mit denen zum Tode Verurteilte die Tage gezählt haben, bis man ihnen die Schlinge um den Hals legte. Gerade, als er seinen Arm zurückziehen will, fällt der Lichtschein auf eine an der Rückwand ausgestreckte Gestalt. Er stößt das Gitter auf und tritt in die Zelle. Auf dem mit Sand bedeckten Boden starrt der Leichnam eines schwarz gekleideten Jesuiten mit leeren Augen in die Dunkelheit. Eine übermenschliche Kraft scheint ihm das Genick gebrochen und die Gliedmaßen ausgerenkt zu haben. Nur mit großer Mühe kann Carzo das von Angst verzerrte Gesicht identifizieren. Es gehört Bruder Ignacio Constenza, einem äußerst tapferen Exorzisten, der die Fähigkeit besaß, Dämonen aufzuspüren. Wie bei Pater Alameda am Eingang des Aztekentempels hatte ein namenloses Entsetzen die Haare des Unglücklichen weiß werden lassen. Carzo legt die Finger auf Bruder Ignacios Augenlider und spricht das Totengebet. Dann verlässt er die Zelle und geht weiter.
Damit sich die Angst nicht auch seines Geistes bemächtigt, zählt er die Schritte bis zum Ende des Gangs. Nach zwölf Schritten dringt ein gequältes Geheul zu ihm. Er bleibt stehen und nimmt den Veilchengeruch wahr, der ihn umweht. Der Geruch nach Weihrauch ist vollständig verschwunden. Die Jesuiten haben den Kampf verloren.
Schwere Schritte. Carzo sieht eine riesige Gestalt, die sich von fern nähert. Nie hat eine tiefere Schwärze sein Herz erfasst. Er empfindet das gleiche Gefühl seelischer Vernichtung wie im Aztekentempel. Das Wesen, das da auf ihn zukommt, wobei es eine Fackel nach der anderen auslöscht und deren Licht in sich aufzusaugen
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