Das Evangelium nach Satan
scheint, ist das absolute Böse, die vollkommene Nacht. Carzo bleibt wie versteinert stehen. Erst als die von Veilchengeruch erfüllte Luft nicht mehr einzuatmen ist, gelingt es ihm, sich aus seiner Erstarrung zu lösen. Er weicht bis zu der Zelle zurück, in der Bruder Ignacios Leichnam liegt, drückt sich an die hinterste Wand und bedeckt sein Gesicht mit den Händen.
Ein Rascheln wird im Gang hörbar, ein Fiepen. Durchdringende leise Schreie und das Geräusch kleiner Füße, die über den sandbedeckten Boden eilen. Durch halb geschlossene Lider sieht Carzo eine Schar Ratten, die vor der sich nähernden Bedrohung fliehen, so schnell sie können. Einige schlüpfen in die Zelle und nagen den toten Jesuiten an.
Carzo tritt nach ihnen, um sie zu verjagen. Sie verschwinden zwischen den Gitterstäben und schließen sich der Schar ihrer davoneilenden Artgenossen an. Die Geräusche hören auf. Stille.
Das Knirschen von Stiefelsohlen. Ein eiskalter Luftstrom streicht durch den Gang. Der Veilchengeruch konzentriert sich in Carzos Nase. Er spreizt die Finger, um einen Blick auf das Wesen zu werfen, das jetzt in sein Gesichtsfeld gerät. Es trägt schwere Pilgerstiefel und eine schwarze Mönchskutte mit Kapuze. Es richtet sich auf. Ein Seelenräuber, dem die Jesuiten den Zugang zur Kathedrale nicht verwehren konnten.
Der Exorzist wartet einige Minuten, bis er die Zelle verlässt. Nach wie vor hämmert sein Herz wild in der Brust. Er schnuppert. Kein Veilchengeruch mehr. Das Untier ist fort. Er beschleunigt den Schritt. Am Ende des Gangs dringt durch eine angelehnte Tür der in Archiven übliche Geruch nach gewachstem Holz und Staub.
Allmählich gewöhnen sich seine Augen an die Dunkelheit. Er tritt in eine riesige Bibliothek, deren Decke auf Säulen ruht. Überall liegen umgestürzte Regale und Pulte am Boden. Lichtkuppeln in der Decke, deren Glas stumpf geworden ist, lassen einzelne Bündel von Sonnenstrahlen ein, in denen Staubkörnchen tanzen. Dieser große Raum muss also irgendwo unterhalb der Grundmauern der Stadt liegen.
Auf den Marmorplatten des Bodens bildet ein bläuliches Geflecht von Mosaik-Rauten eine lateinische Inschrift: Ad Maiorem Dei Gloriam. Zum höheren Ruhme Gottes. Darüber umschließt eine flammende Sonne die drei tiefschwarzen Buchstaben IHS. Sie stehen für Iesus Hominum Salvator, Jesus, der Erlöser der Menschen. Es ist der Wahlspruch der Jesuiten.
Carzo geht zu den umgestürzten Regalen. Lose Pergamente und Bücher bedecken den Boden. Reglos bleibt er stehen und horcht in die Stille. Ein regelmäßiges Geräusch erregt seine Aufmerksamkeit. Es kommt aus der Mitte des Saals, von dorther, wo die Lichtbündel die Dunkelheit zerschneiden. Er sieht in der Mitte ein Schreibpult. Ein aufgeschlagenes großes Buch liegt darauf, dessen Seiten von Blut bedeckt sind. Einige Tropfen sind vom Rand des Pults auf den Boden gefallen.
Er tritt unter das Lichtbündel und nimmt das Werk in Augenschein. Es handelt sich um die Abhandlung über die Hölle, ein unschätzbar wertvolles Exorzisten-Handbuch aus dem elften Jahrhundert. Jemand hat es auf der Seite mit dem Ritus der Finsternis aufgeschlagen, eine hochgefährliche und äußerst geheime Zeremonie, die man ausschließlich in äußerster Not beim Kampf gegen die mächtigsten aller Dämonen einsetzen darf.
Er hält die Hand über die Schrift. Platsch. Ein Blutstropfen fällt in seine Handfläche und zeichnet dort ein rotes Muster. Er hebt den Blick und zuckt vor Entsetzen zusammen, als er über sich Pater Ganz sieht, dessen bleiches Gesicht im Dämmerlicht leuchtet. Man hat ihn mit dem Kopf nach unten an einen Deckenbalken gebunden und ihm dann die Kehle durchgeschnitten. Im glasigen Blick des Gemarterten erkennt Carzo den gleichen Ausdruck des absoluten Entsetzens, den er in Bruder Ignacios toten Augen gesehen hat. Der Seelenräuber.
Als er sich daranmacht, Pater Ganz loszubinden, dringt ein Stöhnen durch die Stille. Er wendet sich um und sieht eine menschliche Gestalt aufrecht an der hinteren Wand des Raums. Dort scheint Pater Jacomino in die Finsternis zu starren. Man hat ihn mit ausgebreiteten Armen dort aufgehängt.
8
Gillian Ray ging immer auf dieselbe Weise vor: Mit seinem Engelsgesicht brachte er Bauern aus dem australischen Busch, die ihn in ihrem Wagen ein Stück mitnahmen, dazu, ihn mit auf ihren Hof zu nehmen. Dort aß er sich satt, lobte die Bauersfrau für ihre gute Küche und spielte bis zur Schlafenszeit mit den Kindern. Im Morgengrauen
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