Das ewige Leben
hat seine Hand festgehalten und ihm durch ihre dik-ken Brillengläser in die Augen geschaut, während sie ihm den Text langsam vorgesagt hat wie früher die Sprachlehrerinnen im Fernsehen, besonders die Russin hat mir immer gefallen, aber die Handleserin nicht russisch, die Handleserin zigeunerisch: »Te mepijav laches rosnes.«
Und der Brenner hat brav wiederholt, wie er es ja schon von seiner Logopädin gewohnt war: »Te me pijav -«
»- laches rosnes«, hat die Zigeunerin ihm geholfen.
»- roses«, hat der Brenner ein bisschen abgekürzt.
»Genau«, hat die Zigeunerin mit tausend goldenen Zähnen gelächelt und übersetzt: »Wenn ich mir betrinken tu, ich viel traurig.«
»Traurig samma«, hat der Brenner gebrummt.
»Traurig samma«, hat die Zigeunerin wiederholt, weil sie hat geglaubt, der Brenner will ihr Deutsch verbessern. »Wenn ich mir betrinken tu, traurig samma.«
Die Zigeunerin hat dann wieder leise die Melodie gepfiffen und seine Hand untersucht. Der Brenner hat versucht, sich nichts anmerken zu lassen. Erschreckt hat es ihn schon ein bisschen, dass die Zigeunerin ihm seinen Ohrwurm aus der Hand liest.
Nur eben auf zigeunerisch, und Zigeunerleben ja immer lustig, darum haben sie wahrscheinlich zum Ausgleich das Bierlied mit traurig.
»Mann auch samma traurig«, hat die Zigeunerin gesagt.
Der Brenner war sich nicht sicher, ob sie es als Frage gemeint hat, oder ob sie das aus seiner Hand gelesen hat. Aber er hat sich gedacht, das ist jetzt vielleicht seine Chance, dass er sie nach den verschwundenen Zigeunern fragt. »Ja, weil zwei Freunde von mir sind verschwunden.«
»Ahhh, musst suchen«, hat die Zigeunerin gelächelt.
»Deine zwei Kollegas, die immer vor dem Stadion gestanden sind. Kannst du mir vielleicht helfen, dass ich sie finde?«
Sie hat getan, als würde sie es nicht hören.
Kost Zehner, wäre für den Brenner jetzt die ideale Antwort gewesen. Oder meinetwegen: Kost Zwanzga. Aber sie hat nur schweigend seine Hand untersucht, das war ihm jetzt wahnsinnig unangenehm. Da war seine Hand immer noch vollkommen unversehrt.
»Ich schulde denen nämlich noch Geld«, hat der Brenner gesagt. »Und jetzt finde ich sie nicht mehr.«
Die Zigeunerin hat immer noch nicht reagiert. Sie hat ihm jetzt ein paar Dinge aus seiner Hand gelesen, zuerst einmal Vergangenheit, da war ihm nicht ganz wohl, Polizeischulgeschichten, Weibergeschichten und sogar Sachen, die er selber nicht mehr gewusst hat, aber wo er zugeben hat müssen, sie sind wahr.
Mein lieber Schwan, das war ihm fast zu viel. Auf einmal ist ihm vorgekommen, dass der Campingwagen noch kleiner geworden ist, dass der Plunder sich noch vermehrt hat, ihm ist vorgekommen, dass die Zigeunerin noch einmal dicker geworden ist. Er hat auf einmal solche Beklemmungen bekommen, dass er gern seine Hand weggezogen und sich verabschiedet hätte.
Aber seine Hand hat sich nicht mehr wegziehen lassen vom Campingtisch. Keinen Millimeter. Die Zigeunerin hat sie so fest gehalten, dass er gleich gewusst hat, jetzt fängt sie mit der Zukunft an, und dann komme ich nicht mehr heraus aus der Zukunft. Das musst du dir einmal vorstellen. Da liegt die Hand vom Brenner mitten auf dem Campingtischchen, auf der einen Seite von der Hand sind gelegen: ein Kugelschreiber, eine schwarze Strickjacke mit so einem durchbrochenen Muster, ein schwarzes Kopftuch, oder war es ein großes Taschentuch, eine angebrochene Packung Studentenfutter, ein in der Mitte zusammengeklebter Aschenbecher, in dem ihre filterlose Marlboro geraucht hat, und auf der anderen Seite eine schmutzige Kaffeetasse und ein kleiner Teller mit Rosenmuster. Und auf dem Teller das Jausenmesser mit dem roten Griff und der scharfen Zackenklinge neben dem Sockel der billigen Leselampe, die ganz langsam immer weiter hinuntergesunken ist und so der Hand vom Brenner immer mehr eingeheizt hat, weil die Hand natürlich direkt unter dem Lichtkegel.
Aber gesehen hat man nur den Handteller und den Daumen. Weil mit ihrer Hand hat die Zigeunerin die vier Finger vom Brenner so fest umklammert, dass er geglaubt hat, Schraubstock. Aber interessant. Weh getan haben ihm nicht die Finger. Weh getan hat es ihm mitten in der Handfläche. Weil die Zigeunerin hat so konzentriert hingestarrt, dass dem Brenner vorgekommen ist, sie brennt ihm mit ihren Augen ein Loch mitten in den Handteller.
»Brena abgraz ibermorgen«, hat sie geflüstert.
»Was?«, hat der Brenner gefragt. Normalerweise soll man ja »wie bitte« sagen, nicht
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