Das ewige Lied - Fantasy-Roman
großen Flut vor zehn Jahren herrschte hier in der Küstenregion große Armut, müsst ihr wissen. Viele Fischer hatten all ihre Habe verloren. Ihre Häuser, Boote und teilweise sogar ihre Familien. Wir leisteten zwar Hilfe, aber nicht nur Hilfe für den Körper war nötig: Der Glaube an Fluidos war in den Grundfesten erschüttert, viele drohten zu verzweifeln. Seitdem versuchen wir, den Kindern durch die Schulen, die in einigen Orten eingerichtet wurden, etwas Halt zu geben. Es kommt ja immer wieder vor, dass der Vater nicht mehr nach Hause kommt. Und weniger Fische gibt es auch, so dass Hunger und Armut eine ständige Bedrohung sind.“
„Wie kommt es, dass es weniger Fische gibt?“, wollte Jayel wissen.
„Wir können nur Vermutungen anstellen“, erklärte Pariot, „sicherlich wisst ihr von Gorgolus, dem Schwarzmagier, der in einem Felsenschloss küstenaufwärts vor etwa zwanzig Sommern sein Unwesen trieb?“
Jayel nickte; sie hatte von der Geschichte gehört.
„Eine Gruppe von Weißmagiern konnte Gorgolus schließlich besiegen“, fuhr Pariot fort. „Aber da war es schon zu spät. Gorgolus hatte seine Macht aus dem Meer und der Küste bezogen. Was auch immer seine Macht berührte, verwandelte sich in Blutstein, zum Schluss sogar er selbst und sein Schloss. Auch die Region etwa eine Tagesreise um das Schloss herum ist betroffen. Und es scheint sich sogar noch auszubreiten. Jedes lebendige Wesen, das diesen Blutstein berührt, stirbt innerhalb weniger Tage. Keiner weiß genau, warum. Schon Dutzende von Magiern haben versucht, den Zauber unwirksam zu machen, aber keiner hat etwas erreicht. Kein Mensch und kein Tier wagt sich mehr in die Nähe des Schlosses. Aber es ist ja ein Felsenschloss und steht direkt an der Küste. Wir befürchten, dass der Zauber auch im Wasser wirkt und langsam die Fische vergiftet, die dort herumschwimmen...“
Jayel schüttelte sich. Was für eine unheimliche Legende. Sie glaubte nicht, dass sie diese Geschichte so bald jemandem erzählen würde. „Aber was ist mit den Aquanten?“, fragte sie.
Pariot zuckte mit den Schultern. „Offenbar meiden sie den Bereich; ich bin nicht sicher, wir erfahren ja auch nicht viel von dem, was in Aquien vor sich geht...“ Der junge Priester ergriff seine Insignien, die er für die Andacht benötigte, und meinte: „Nun muss ich aber hinaus, sonst werden die Kinder ungeduldig. Wollt ihr auch an der Andacht teilnehmen?“
Jayel schüttelte bedauernd den Kopf: „Ein anderes Mal gerne, aber wir haben es leider eilig. Wir müssen unbedingt einen Weg finden, zu den Aquanten zu gelangen. Habt ihr vielleicht einen Vorschlag?“
Pariot lachte: „Nun, es liegt nicht an euch, sondern an den Aquanten, euch einzulassen. Zumindest seid ihr am Strand sicher richtig...“ Jayel sah Daphnus an und seufzte. Offenbar schien sich in diesem Ort jeder entschlossen zu haben, klare Aussagen zu vermeiden. Langsam folgte sie den beiden Männern aus dem Tempel hinaus.
Pariot gesellte sich zu seinen Schülern, die ihn mit freudigen Rufen begrüßten. Daphnus und Jayel begannen, den Strand entlang zu spazieren. Von Ferne konnten sie die beginnende Andacht hören: ein Loblied auf Fluidos, von vielen hellen Kinderstimmen vorgetragen, die von einem hellen Tenor geleitet wurden.
Jayel war zum ersten Mal in ihrem Leben am Meer, und schon am Abend zuvor hatte sie das tiefe Blau, die scheinbar unendliche Weite und der intensive Geruch sehr beeindruckt. Als sie jetzt den Sand unter ihren Füßen spürte und der leichte Wind an ihren rötlichen Haaren zerrte, spürte sie zum ersten Mal, was für ein Glück sie hatte, die Bardenausbildung bekommen zu haben. Nur wenigen Menschen in Celane waren solche Erfahrungen vergönnt.
Als sie Daphnus ihre Erkenntnis mitteilte, sah er sie zunächst nur stumm an. Dann ergriff er ihre Oberarme und dreht sie um, so dass sie zurück auf die Kinder am Strand blickte. „Was siehst du?“, fragte er barsch. Jayel blickte verwirrt von Daphnus zu den Kindern. Dann betrachtete sie die Kinder genauer. Sie waren zerlumpt und ärmlich, aber trotzdem sauber gekleidet. Einigen sah man an, dass es in letzter Zeit nicht viel zu essen gegeben hatte, obwohl sie alle gesund wirkten. Jayel begriff. Sie war nicht nur privilegiert, weil sie eine gute Ausbildung genossen hatte, sondern weil sie überhaupt die Möglichkeit gehabt hatte, zwischen diesem und einem anderen Leben zu wählen. Allein durch ihre Herkunft, ihren Geburtsort, hatte sie Vorteile, die
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