Das ewige Lied - Fantasy-Roman
denken. Lass dich nicht täuschen, wenn es soweit ist. Hör auf das Lied in dir, und vertraue auf deine Intuition. Darin warst du schon immer gut...“ Grats Hände verkrampften sich um die Jayels, als er wieder zu husten begann.
Jayel starrte ihn an. Woher sollte er von der Prophezeiung wissen? Redete ihr Bruder im Fieber? Er wurde ganz ruhig, und Jayel glaubte schon, er wäre eingeschlafen, da hub Grat noch einmal an: „Glaub an dich und deine Lieder, Jayel! Suche das Einhorn...“ Grat zuckte, stöhnte kurz auf, dann erschlafften plötzlich seine Hände und sein Kopf rollte zur Seite.
Jayel starrte ihn an. „Grat! Nein“, flüsterte sie, und Tränen stiegen ihr in die Augen. „Nein. Nein!“, flüsterte sie. Sie legte Grats Hände vorsichtig zurück auf das Bett und strich die Decke glatt. „Nein“, flüsterte sie noch einmal, während die Tränen begannen, über ihre Wangen zu rinnen. Lange betrachtete sie ihren Bruder, der wie schlafend dalag. Dann stand sie langsam auf und ging durch das Zelt. Sie stieg über sich windende und stöhnende Leiber, ging an still daliegenden und bereits kalten Körpern vorbei. Sie verließ das Zelt, den Blick starr auf einen Punkt vor sich in der Luft gerichtet.
Vor dem Zelt warteten die anderen auf sie. „Hast du...“, begann Daphnus, verstummte aber, als er ihr Gesicht sah.
„Was ist los?“, fragte Tiark.
Jayel jedoch ging, ohne zu antworten, an ihnen vorbei. Sie wollte mit niemandem sprechen, wollte nichts mehr hören und sehen. „Jayel“, hörte sie die anderen rufen, drehte sich jedoch nicht um.
„Nein...“, murmelte sie, als sie die Zelte des Lazaretts hinter sich gelassen hatte und in den weißen Nebel eintauchte, der das Land dahinter wie ein Leichentuch einhüllte.
14: Das Ritual
Später konnte Jayel nicht sagen, wie lange sie ziel- und ruhelos durch den Nebel gewandert war. Es mochten Stunden gewesen sein, vielleicht auch Tage oder Jahrmillionen – sie wusste es nicht, und es kümmerte sie auch nicht. Tränenblind war sie immer geradeaus gelaufen, weiter durch die Nebel, ohne dass sich in der Landschaft um sie herum irgendetwas geändert hätte. Sie sah nur etwa drei Schritt weit, dann versank alles um sie in den weißen Schleiern, die nicht nur das umliegende Land, sondern auch jedes Geräusch zu verschlucken schienen. Hätte Jayel darauf geachtet, wäre ihr sicherlich aufgefallen, dass sie immer auf einer Ebene lief; das Land hob sich nicht, senkte sich auch nicht. Bald waren ihre Kleider feucht vom Nebel, und auch ihre Haare klebten strähnig an ihrem Kopf und ihrer Haut fest. Irgendwann löste Erschöpfung den dumpfen Schmerz ab, der sich in ihrem Inneren breit gemacht hatte. Jayel ließ sich einfach auf der nasskalten Erde nieder, rollte sich zusammen und schlief ein. Als sie wieder erwachte, nahm sie ihre Wanderung wieder auf.
Irgendwann tauchten im Nebel vor ihr plötzlich seltsame Umrisse auf. Als sie näher kam, erkannte sie, dass es weiße Ruinen waren. Drei Stufen führten auf ein Podest hinauf, auf dem eine steinerne Säule hoch in den Himmel ragte, daneben befanden sich die Ruinen zweier weiterer Säulen. Jayel ließ sich auf der obersten Stufe nieder und blickte in den Nebel. Sie seufzte auf. Dann schluchzte sie. Und schließlich stützte sie den Kopf in die Hände und weinte hemmungslos vor sich hin. Irgendwann jedoch trocknete sie ihre Tränen und sah wieder in den Nebel. Sie wusste, dass sie hier warten sollte.
Nach kurzer Zeit trat das Einhorn aus den Nebeln hervor und blieb kurz vor ihr stehen. Jayel und das Tier blickten sich an. Durch ihren erhöhten Sitz auf den Stufen konnte Jayel dem Einhorn direkt in die Augen sehen, ohne den Kopf heben zu müssen. Es hatte wunderbare, goldene Augen, in denen eine tiefe Trauer lag. Schweigend sahen sich die beiden an.
„Musste es sein?“, fragte Jayel schließlich.
Das Einhorn neigte den Kopf. „Du weißt es...“, erklang eine wunderbar melodische Stimme in Jayels Kopf. „Jeder hat sein Schicksal.“
Jayel blickte dem Einhorn fest in die Augen: „Und das Meine ist...?“
„Mir zu dienen und die Prophezeiung zu erfüllen.“
„Aber ich habe bis vor kurzem gar nicht an dich geglaubt!“
„Doch das hast du. Es ist nicht wichtig, an welchen Gott man glaubt. Es ist wichtig, an sich selbst zu glauben.“
Jayel blickte traurig zu Boden. „Aber ich habe versagt. Die Schlacht...“
„Die Schlacht war nur ein Vorbote des großen Entsetzens, das noch kommen wird, wenn niemand den
Weitere Kostenlose Bücher