Das Exil Der Königin: Roman
ihr im Kurs über die Geschichte der Kriegskunst. Raisa musterte ihn abschätzend, kaute und schluckte. »Nicht mein Typ«, antwortete sie und schüttelte den Kopf.
»Dann vielleicht Sanborn«, fuhr Talia fort und deutete auf einen gut gebauten, dunkelhaarigen Jungen. »Er kommt von einem der unteren Reiche – We’enhaven, glaube ich. Es heißt, sie wären dort ruhig und beständig.«
Raisa gähnte ausgiebig. »Ich weiß nicht, wo du nur die Energie für eine Romanze hernimmst.«
»Du bist einfach nur verflucht wählerisch«, antwortete Talia. »Du musst ihn schließlich nicht gleich heiraten.«
»Lass sie in Ruhe, Talia«, sagte Hallie. »Vielleicht gibt es zu Hause jemanden, nach dem sie sich sehnt. Irgendein junger Lord oder reicher Kaufmann. Sie ist Qualität gewohnt, verstehst du? Sie hat es vielleicht auf Höheres abgesehen als auf einen Barrett oder Sanborn.«
»Das bedeutet doch nicht, dass sie an dieser Schule keinen Schatz haben kann«, beharrte Talia.
Talia war auf Verkuppelungs-Mission. Sie und Pearlie Greenholt, die Waffenmeisterin von Wien House, waren furchtbar ineinander verliebt, und Talia wollte ihre Freude mit allen anderen teilen.
»Pass nur auf, Rebecca«, hatte Hallie ihr geraten. »Talia und Pearlie – das sind Mondspinner. Die brauchen sich keine Sorgen zu machen, ob Kinder dabei rauskommen.«
Das Wort Mondspinner bezog sich auf die Mitglieder des Tempels des Mondes zu Hause in den Fells – Frauen, die andere Frauen gegenüber Männern bevorzugten. Talia war Mitglied, seit sie zwölf war. Pearlie war es offiziell nicht – sie kam aus Arden.
Hallie stand auf. »Hör bloß nicht auf Talia, sonst endest du noch mit einem Kind im Bauch.« Zur Betonung tätschelte sie ihren Bauch und ging mit breitem aufrechtem Rücken zurück zu denen, die sich vor der Essensausgabe anstellten.
Hallie war alleinerziehende Mutter der zwei Jahre alten Asha, die sie bei ihren Eltern in Fellsmarch hatte zurücklassen müssen. Für romantische Anwandlungen hatte sie nichts übrig.
Dabei hätte sie sich gar keine Sorgen machen brauchen. Raisa wehrte geschickt alle Hinweise und Vorschläge von Talia ab. Allerdings konnte sie ihr nicht gut sagen, dass sie bereits verliebt war – in ihren Befehlshaber.
So viel zu ihren Plänen, sich ein bisschen umzusehen, bevor sie heiratete.
Raisa mochte Hallie und Talia wirklich gern. Sie genoss ihre Gesellschaft und bewunderte ihren Mut und ihre Entschlossenheit. Talia liebte, wen sie liebte, ohne sich darum zu kümmern, dass Leute aus den unteren Reichen Mondspinner wie sie mit einem Stirnrunzeln betrachteten. Und Hallie war fest entschlossen, weiter an ihrer Ausbildung zu arbeiten, obwohl sie ihre Tochter schrecklich vermisste.
Sie waren Freunde geworden, trotz der vielen Geheimnisse, die sie voneinander trennten.
Freundinnen zu haben war etwas Neues für Raisa. Die Beziehungen am Hof waren geprägt von Politik und Wettbewerb; jeder schielte nach einer Position, die ihn möglichst nah an die Mächtigen herankommen ließ. Man konnte niemandem trauen, alle Absichten waren verdächtig. Amon war ihr einziger Freund gewesen, und jetzt wurde auch diese Beziehung von einer ganz eigenen Last beschwert.
Es war kein Wunder, dass Hanalea sich verkleidet unter ihr Volk begeben hatte. Es war die einzige Möglichkeit, herauszufinden, wie die Leute wirklich waren.
Die Glocken, die die erste Unterrichtseinheit verkündeten, hallten erneut durch den Speisesaal. Raisa trug ihre Schüssel und den Löffel zu dem Platz für gebrauchtes Geschirr und ging zur Tür.
»Sende Pearlie meine Liebe!«, rief Talia ihr nach, während sie in die herbstliche Dunkelheit entschwand.
Als Raisa auf dem Paradeplatz ankam, drehten bereits einige Kadetten ihre Runden. Sie zog die Jacke aus und legte sie beiseite; sie wusste, dass sie schon bald schwitzen würde.
Nach einer halben Stunde Dauerlauf war sie klatschnass. Danach wurde – gemeinsam als Gruppe – mit Waffen geübt. Sie schwangen Piken, rannten in Zehnerreihen über das Feld und schrien so laut wie Todesfeen, bis Raisa heiser war und ihre Arme so schwer waren, dass sie die Waffe kaum noch in der Hand halten konnte.
Es handelte sich um die Kriegskunst der Flatlands, die Raisa ziemlich fremd war. In einem Gebirgspass war nicht genügend Platz, sodass Soldaten in einer Reihe manövrieren konnten. Clan-Krieger kämpften einzeln oder in kleinen Gruppen mit abwechselndem Angriff und Rückzug. Diese Art zu kämpfen erforderte
Weitere Kostenlose Bücher