Das Experiment
weitersprach, hatte er das Gefühl, dass sie gegen Tränen ankämpfte.
„Sie verstehen nicht“, sagte sie. „Es ist nicht so, dass ich es nicht erlauben würde. Es ist einfach so …“ Sie unterbrach sich plötzlich und veränderte ihren Tonfall: „Wenn Sie ein Freund der Familie sind, dann sollten Sie es eigentlich längst wissen.“
„Ich war dienstlich außer Landes. Was sollte ich wissen?“
„Es tut mir sehr Leid“, antwortete die Mutter Oberin, „aber wir haben Schwester Mary verloren.“
„Was meinen Sie damit, Sie haben sie verloren?“
„Sie ist tot, Sir.“
Sully schnappte nach Luft, um weiterreden zu können. „Was ist passiert?“
„Es ist nicht an uns, darüber zu richten, wir können nur für ihre Seele beten.“
Doch Sully stand nicht der Sinn nach Frömmigkeit.
„Zum Teufel mit Ihren Gebeten!“ herrschte er sie an. „Ich will eine Antwort.“
„Pater Joseph war Zeuge ihres Todes“, sagte sie ausweichend.
„Mutter Oberin, ich bin Agent beim FBI und frage Sie jetzt zum letzten Mal, wie Georgia gestorben ist.“
Es folgte eine lange Pause, dann ein einziges Wort, das Sullys Welt zum Einsturz brachte.
„Selbstmord.“
„Nein! Nein, das kann nicht sein. Die Georgia, die ich kannte, hätte sich nie das Leben genommen. Niemals!“
„Sie ist in einen Fluss gesprungen, der Hochwasser führte.“
„Sie konnte doch gar nicht schwimmen“, sagte Sully.
„Das ist uns bekannt.“
Tausend Gedanken schossen Sully gleichzeitig durch den Kopf. Er musste sich konzentrieren. Aber worauf? Georgia hatte ihn um Hilfe gebeten, und er war zu spät gekommen.
„Ihre Sachen! Was ist mit ihren Sachen passiert?“ fragte er.
„Die Familie kommt nächste Woche, um sie abzuholen.“
„Ich bin morgen früh bei Ihnen. Fassen Sie nichts an, ehe ich es mir nicht angesehen habe.“
„Oh, aber ich …“
„Sie wurde ermordet“, sagte Sully. „Ich weiß noch nicht, wie, doch ich werde dahinter kommen, und wenn es das Letzte ist, das ich für sie tun kann. Werden Sie mir dabei behilflich sein oder nicht?“
3. KAPITEL
G inny hatte verschlafen. Das Gewitter, das in der Nacht über St. Louis hinweggezogen war, hatte einen kurzen Stromausfall bewirkt, und seitdem blinkte der Radiowecker, anstatt sie am Morgen zu wecken. Sie fuhr sich mit der Bürste durchs Haar, blieb einmal hängen, schrie vor Schmerz auf und fluchte dann.
„Mist“, murmelte sie. Solange sie zurückdenken konnte, ließ das Geräusch des Donners sie in einen lethargischen Zustand fallen, dem meist ein langer, traumloser Schlaf folgte.
Sie nahm ihren Regenmantel und den Schirm, dann stürmte sie aus dem Schlafzimmer. Wenn nicht allzu viel auf den Straßen los war, würde sie noch einigermaßen rechtzeitig im Büro ankommen. Sie wollte gerade gehen, als es an der Tür klopfte. Erschrocken machte sie einen Satz nach hinten, dann ging sie wieder zur Tür und sah durch den Spion.
„Mist, Mist, Mist“, flüsterte sie, als sie den Hausverwalter ihres Apartmentblocks erkannte. Seit Monaten versuchte er, sich an sie heranzumachen, ohne die Tatsache einsehen zu wollen, dass sie kein Interesse hatte. Sie riss die Tür auf und hoffte, dass er ihre Ungeduld bemerkte.
„Ja?“
Er zog sie mit seinen Blicken aus, ehe er ihr ins Gesicht sah.
„Guten Morgen, Virginia.“
„Stanley … ich bin furchtbar in Eile, wie Sie sicher sehen können.“
„Ja, so geht es uns allen“, erwiderte er und hielt ihr dann einen großen Umschlag hin, den er hinter seinem Rücken versteckt hatte. „Das hier habe ich heute Morgen hinter dem Papierkorb an den Briefkästen gefunden. Ich weiß nicht, wie es dort hingelangt ist, aber da es als ‚Eilig‘ gekennzeichnet ist, hielt ich es für meine Pflicht, es Ihnen sofort zu bringen.“
„Danke“, sagte Ginny, nahm den Umschlag entgegen und schlug ihm die Tür vor der Nase zu, während sie die Absenderangabe las.
Fast augenblicklich besserte sich ihre Laune. Sacred Heart Convent. Er musste von Georgia kommen. Von Schwester Mary, berichtigte sie sich. Es war für sie immer noch unvorstellbar, dass Georgia Dudley Nonne geworden war. Die Georgia Dudley, die auf einer Silvesterparty ihren Pullover ausgezogen und auf dem Tisch ihres Chefs getanzt hatte. Daraufhin musste sie grinsen. Vielleicht war genau
das
der Grund, warum sie diesen Schritt getan hatte. Vielleicht wusste sie, dass sie nie wieder in der Anwaltskanzlei Dudson, Dudson and Gregory arbeiten würde. Und bei einem zukünftigen
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