Das Experiment
kopierte alles, was sie erhalten hatte, legte einen kurzen Brief dazu, in dem sie ihm von ihren Befürchtungen berichtete, außerdem schickte sie eine weitere Kopie an Ginny. Sie musste unbedingt gewarnt werden. Auf dem Weg zum Kinderkrankenhaus konnte sie die beiden Sendungen bei FedEx abgeben.
Als sie sich abends zum Essen begab, fühlte sie sich ein wenig erleichtert. Die Last dessen, was sie vermutete, hatte sie mit einem anderen teilen können. Und wenn sie Sullivan richtig einschätzte, würde er sie anrufen, sobald er die Sendung erhalten hatte. Als die Mutter Oberin das Tischgebet sprach, schickte Schwester Mary Teresa rasch ein Stoßgebet mit in Richtung Himmel.
Bitte, Gott, hilf uns in unserer Stunde der Not.
„Schwester Mary Teresa, würdest du bitte das Brot weitergeben?“
Sie hob den Kopf und lächelte die Frau zu ihrer Rechten an. Schwester Frances Xavier war besonders auf Brot versessen – ihr kleiner rundlicher Körper war dafür der lebende Beweis.
„Gewiss“, sagte sie und reichte den Brotkorb weiter, als der Lärm eines Presslufthammers den Frieden im Raum störte. Vor Schreck hätte sie beinahe den Korb fallen lassen.
„Das sind nur die Handwerker“, sagte Schwester Frances beschwichtigend.
„Welche Handwerker?“
„Die im Keller arbeiten. Mit den Rohren stimmt etwas nicht, glaube ich. Du kannst dir ja vorstellen, wie alt die Rohre hier schon sein müssen.“ Dann beugte sie sich vor und flüsterte, während sie in den Brotkorb fasste: „Mutter Oberin war deswegen völlig außer sich. Sie hat gesagt, dass die Heiligkeit und der Frieden von Sacred Heart gestört werden.“ Dann kicherte sie und fragte: „Aber Pater Joseph hat erwidert, dass dieser Lärm leichter zu ertragen ist als der Gedanke, dass hundertdreiundzwanzig Nonnen weder eine Toilette noch fließendes Wasser haben.“
Schwester Mary Teresa musste ebenfalls kichern. „Das muss sich wohl abgespielt haben, als ich im Kinderkrankenhaus war. Ich hätte gerne miterlebt, wie die beiden aufeinander losgegangen sind. Sie sind ja immer so gegensätzlicher Ansicht. Man sollte doch meinen, dass sie etwas besser miteinander auskommen würden. Immerhin ziehen wir doch sozusagen alle an einem Strang.“
Schwester Frances zuckte mit den Schultern. „Nur weil sie Gott lieben, muss das nicht heißen, dass sie sich auch lieben müssen“, sagte sie und fügte dann rasch an: „Ich meine das natürlich nur im symbolischen Sinn.“ Sie zeigte nach links. „Kannst du mir bitte das Salz reichen?“
Sechsunddreißig Stunden waren vergangen, ohne dass sie etwas von Sullivan oder Ginny gehört hatte. Schwester Mary Teresa begann, sich ernsthaft Sorgen zu machen. Sie versuchte noch einmal, Ginny bei der
St. Louis Daily
zu erreichen, erfuhr jedoch, dass sie erneut einen Auftrag außer Haus zu erledigen hatte. Warum sich Sully noch nicht gemeldet hatte, wusste sie zwar nicht, aber bei seinem Job konnte er sich im Moment irgendwo in den Staaten aufhalten, ohne etwas von den Dingen zu wissen, die sich hier abspielten.
Sie spielte mit dem Gedanken, die Polizei zu informieren, entschied sich dann aber dagegen. Es gab Zeugen für jeden einzelnen Vorfall, und sie alle waren entweder als Unfall oder als Selbstmord eingeordnet worden. Es gab keinen Beweis dafür, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte nur das ungute Gefühl, dass es sie und Ginny als Nächste treffen würde.
Aus Angst, ein Telefonat entgegennehmen zu müssen, hatte sie bereits darum gebeten, von ihrer Arbeit im Büro befreit zu werden. Als die Mutter Oberin sie gefragt hatte, ob sie krank sei, hatte sie gelogen und Ja gesagt. Das lastete nun auf ihrem Gewissen. Schweren Herzens verließ sie das Hauptgebäude und ging zur Kapelle am anderen Ende des Grundstücks. Ihren Blick auf den Weg vor sich gerichtet, kreisten die Gedanken um eine längst fällige Beichte. Ohne näher von ihnen Notiz zu nehmen, ging sie an einer Reihe von Personenwagen vorbei, die auf dem Besucherparkplatz standen. Besucher waren in Sacred Heart häufig anzutreffen. So wenig sie die Fahrzeuge wahrnahm, so wenig fiel ihr die Person auf, die auf einer Bank unter den Bäumen zu ihrer Linken saß. Aus der Ferne hörte sie zwar Schritte auf dem Weg hinter ihr, doch es war ein so beiläufiges Geräusch, dass sie sich nicht umdrehte.
Als Schwester Mary Teresa die Kapelle betrat, verlor sie ihre Angst. Dieser Ort und der ihm innewohnende Frieden verliehen ihr Kraft.
Vereinzelt hatten sich Besucher auf den langen
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