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Das Experiment

Das Experiment

Titel: Das Experiment Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Dinah McCall
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Holzbänken niedergelassen. Einige waren ins Gebet vertieft, während andere das kunstvoll gefertigte Fenster oberhalb des Altars bewunderten. Schwester Mary bekreuzigte sich, küsste den Rosenkranz der Jesusfigur und begab sich zu den Beichtstühlen im hinteren Teil der Kapelle.
    Zwar nahm Pater Joseph um diese Tageszeit Beichten ab, aber er war nirgends zu sehen. Es machte ihr nichts aus, da er so wie immer früher oder später auftauchen würde. Sie war schon glücklich darüber, sich im Haus des Herrn aufzuhalten. Sie nahm in einem Beichtstuhl Platz, schloss die Tür und faltete die Hände zum Gebet. Sobald Pater Joseph sah, dass die Tür geschlossen war, wusste er, dass jemand auf ihn wartete. Bis dahin würde sie sich in Geduld üben, was sie während ihrer Zeit als Novizin gelernt hatte.
    Einige Minuten vergingen, in denen jegliche Panik aus ihrem Herzen wich. Gott war um sie herum, und er war in ihr, und sie hatte nichts zu befürchten. Als sie hörte, dass sich jemand näherte und hinter dem Trenngitter im Beichtstuhl Platz nahm, wusste sie, dass Pater Joseph eingetroffen war. Mit Tränen in den Augen sagte sie: „Vergebt mir, Vater, denn ich habe gesündigt. Ich habe zum letzten Mal vor drei Tagen gebeichtet.“
    Anstelle der vertrauten polternden Stimme von Pater Joseph O’Grady vernahm sie ein schwaches Grollen, so wie von einem weit entfernten Donnern. Fast im gleichen Moment erwachte ein Teil ihrer Kindheit und übernahm die Kontrolle. Sie hatte nicht einmal Zeit, um in Panik zu geraten. Innerhalb weniger Augenblicke war sie einem Meister verfallen, der sie lange vor dem Gott für sich beansprucht hatte, dem sie heute diente.
    Vom Donner war nichts mehr zu hören. Langsam öffnete sie die Augen und verließ den Beichtstuhl, als jemand sie am Arm fasste.
    „Vergib mir, Schwester, ich war verhindert. Ich werde sofort deine Beichte abnehmen“, sagte Pater Joseph.
    Die Nonne ließ nicht erkennen, dass sie ihn gehört hatte.
    „Schwester Mary Teresa!“
    Sie ging weiter und überließ es dem alten Priester, ihr Verhalten zu deuten.
    Der sah ihr ungläubig nach. Als sie den Ausgang erreicht hatte, sagte ihm eine innere – oder vielleicht eine höhere – Stimme, er solle ihr folgen. Er verließ die Kapelle, doch von Schwester Mary war nichts zu sehen. Besorgt eilte er die Stufen hinab und sah sich um, und dann beschloss er, in Richtung des leichten Hangs hinter der alten Kirche zu laufen, der zum Fluss führte.
    Er machte eine Bewegung vor sich aus. Es musste die Nonne sein, daran bestand kein Zweifel. Aber warum sollte sie sich dorthin begeben? Wieder trieb ihn die innere Stimme voran, auch wenn es keinen Sinn ergab. Da unten war nur der Fluss, der gegenwärtig Hochwasser führte.
    Ohne Rücksicht auf seine alten Knochen begann er so schnell zu laufen, wie er konnte. Schließlich hatte er den Fluss erreicht und blieb stehen, um zu Atem zu kommen. Japsend sah er sich um und entdeckte Schwester Mary gut hundert Meter weiter flussabwärts auf einer Klippe. Sie stand dort wie eine Amsel, die sich zum Abflug bereitmachte. Um sie herum tobte das Wasser des reißenden Flusses, das mit tödlicher Geschwindigkeit um große Felsblöcke herumgetrieben wurde.
    Er legte die Hände an den Mund und rief ihren Namen, der aber vom Tosen des Flusses verschluckt wurde. Sie konnte ihn nicht hören. Als sie plötzlich zu schwanken begann, wurde Pater Joseph von Panik erfüllt.
    „Nein! Großer Gott, nein!“
    Er rannte erneut los, den Blick auf die Frau gerichtet, die auf einmal ihre Arme ausbreitete, den Blick zum Himmel richtete und sich nach vorn beugte.
    Mitten in der Bewegung erstarrte er, als sie ins Wasser sprang. Er war nahe genug, um zu sehen, dass sie lächelte und die Augen geschlossen hatte. Im nächsten Moment hatten die Fluten sie verschlungen und mitgerissen.
    „Nein!“ schrie er und fiel auf die Knie. „Gütiger Gott, nein!“
    Vierundzwanzig Stunden später, Washington D.C.
    Sullivan Dean schloss sein Apartment auf, schaffte das Gepäck hinein und ließ die Tür hinter sich zufallen. Ein muffiger Geruch durchzog die Wohnung, während er von einem Zimmer zum nächsten ging.
    Sein Blick fiel auf den vertrockneten Efeu, und im gleichen Moment wurde ihm klar, dass er das verdammte Ding vor der Abreise nicht seinem Nachbarn anvertraut hatte. Es war die fünfte, vielleicht schon die sechste Grünpflanze, die er auf dem Gewissen hatte, seit er hier eingezogen war. Er überlegte, ob er sie diesmal einfach

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