Das Experiment
der Hütte auf. Neugierig auf den neuen Tag trat sie ins Freie und atmete die frische Luft tief ein. Der Himmel hatte sich aufgeklart, nur ein paar vereinzelte graue Wolken waren noch zu sehen.
Ginny nippte vorsichtig an der Tasse und genoss den wohltuend heißen Kaffee. Sie inspizierte gründlich die wacklige Treppe, dann setzte sie sich auf die oberste Stufe, um dort ihren Kaffee auszutrinken. Erst in dem Moment bemerkte sie, dass Sullivan Dean seinen Wagen genau hinter ihrem geparkt hatte. Sie sah zu seiner Hütte, die aber noch völlig dunkel war. Wahrscheinlich schlief er noch tief.
Ein leichter Wind fuhr durch ihr Haar und ließ es trocknen. Sie hob den Kopf und betrachtete den Himmel. Es sah nicht nach einem weiteren Unwetter aus.
Unwetter bereiteten ihr immer Unbehagen, und im Moment war ihre ganze Situation an sich schon unbehaglich genug, da konnte sie auf jedes Unwetter gut verzichten. Aus der Ferne hörte sie ein Radio und kam zu dem Schluss, dass sich wahrscheinlich der Radiowecker des Betreibers der Anlage eingeschaltet hatte. Als die Klänge abrupt verstummten, grinste sie und nahm wieder einen Schluck Kaffee. Offenbar lag sie mit ihrer Vermutung richtig, und er wollte noch nicht aufstehen.
In einem nahe stehenden Baum hörte sie einen Vogel zwitschern, die Antwort kam von irgendwo hinter ihrer Hütte. Sie stellte die Tasse auf die Stufe und ging um die Hütte herum, wo sie in den Ästen der Bäume den zweiten Vogel suchte. Dabei fiel ihr ein anderes Geräusch auf, das etwas Unheilvolles an sich hatte. Das Geräusch von rauschendem Wasser.
Der Fluss! Natürlich. Nach dem heftigen Regen musste er weit über die Ufer getreten sein. Das Bild weckte die Erinnerung an Georgia, die aus scheinbar unerfindlichen Gründen in einen solchen Hochwasser führenden Fluss gesprungen war.
Sie wandte sich ab. Die Freude über den neuen Tag war ihr vergangen. Da hörte sie, dass sich ein Fahrzeug näherte. Auch wenn sie sich einigermaßen sicher fühlte, musste sie daran denken, dass Sullivan Dean sie gefunden hatte. Das bedeutete, dass praktisch jeder andere sie auch finden konnte. Es war eine Bedrohung, die kein Gesicht hatte, und das war für Ginny der Grund gewesen, einfach wegzurennen.
Als sie zwischen den beiden Hütten vortrat, fuhr ein Pick-up am Empfang vor. Auf der Ladefläche befand sich eine Anglerausrüstung, die mit viel Lärm verrutschte, als der Fahrer kräftig auf die Bremse trat. Ginny sah, wie drei Männer lachend und laut redend aus dem Führerhaus stiegen. Einer warf eine leere Bierdose auf den Boden und griff dann auf die Ladefläche, um eine neue Dose Bier aus einer teilweise verdeckten Kühltasche hervorzuholen.
Als er den Deckel eindrückte und den ersten Schluck nehmen wollte, entdeckte er Ginny. Das Grinsen, das sich auf seinem Gesicht abzeichnete, machte sie nervös. In dem Moment wusste sie, dass sie nicht hätte stehen bleiben und zu der Gruppe sehen sollen. Sie versuchte, gleichgültig zu wirken, während sie langsam zu ihrer Hütte zurückkehrte, obwohl sie viel lieber gerannt wäre.
„Hey, Baby! Warte auf mich!“ brüllte der Mann. „Ich hab was für dich, das deine Hüften schwingen lassen wird.“
Ginny glaubte zu hören, dass die anderen Männer sagten, er solle ruhig sein, aber er war offenbar entschlossen, sie zu ignorieren.
Sie schätzte die Entfernung zur Tür ihrer Hütte auf gut zehn bis fünfzehn Meter, als sie hinter sich auf dem Kies eilige Schritte hörte. Sie drehte sich um und sah, wie der Mann auf sie zugelaufen kam.
Sie dachte nicht nach, sie reagierte einfach. Sully hatte gesagt, sie solle schreien, wenn sie ihn brauchte. Genau das machte sie jetzt.
Zwei Mal. So laut sie nur konnte.
Es war schwer zu sagen, wer von ihnen überraschter war – Ginny oder der Fremde –, als ein halb nackter bewaffneter Mann aus der Hütte zwischen ihnen gestürmt kam. Sullys Haar war zerzaust, sein Oberkörper nackt, aber sein Gesichtsausdruck und die Waffe in seiner Hand ließen keinen Zweifel an seinen Absichten. Er warf ihr einen kurzen Blick zu, um zu sehen, ob sie unversehrt war, dann rief er:
„Gehen Sie in die Hütte.“
Ginny wirbelte herum und blieb erst wieder stehen, als sie die Tür hinter sich zugeworfen hatte. Sie eilte ans Fenster und sah, dass Sully den Fremden mit dem Fuß auf den Boden drückte und dessen Taschen durchsuchte, während er die beiden anderen Männer mit seiner Waffe in Schach hielt. Augenblicke später riss er den Mann hoch und wartete,
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