Das Falsche Gewicht
empfand er keinen Haß, weder gegen die Frau noch gegen das Kind, beide waren sie ihm gleichgültig, zuweilen fühlte er sogar Mitleid mit beiden. Er ging dahin, hinter dem Wagen, neben der Frau, einfach, weil er darauf bedacht war, die Leute im Städtchen glauben zu lassen, es sei alles in Ordnung. Plötzlich kehrte er um, ohne Wort, ohne Gruß, und ging nach Hause. Das Dienstmädchen reichte ihm das Essen. Er aß hastig und unachtsam. Er dachte schon an den Schimmel, an das Wägelchen, an die Fahrt nach Szwaby, an die Grenzschenke.
Er ging hinaus in Schuppen und Stall, er spannte ein, und er fuhr los. In goldenen Wolken aus Staub und Sand fuhr er dahin, seine Kehle war trocken, die unbarmherzige Sonne stach mit tausend Lanzen auf seinen Kopf durch den breitrandigen Strohhut, aber sein Herz war fröhlich. Oft und oft hätte er vor einem Wirtshaus halten können, viele Wirtshäuser standen auf seinem Weg. Er hielt nirgends. Durstig und hungrig, wie seine Seele war: so wollte er in Szwaby, in der Grenzschenke ankommen.
Er kam an, es dauerte gute zwei Stunden. Der Schimmel Jakob war schon ungeduldig, er ließ die Zunge hängen, er lechzte nach Wasser, und seine Flanken zitterten in heißer Erregung. Der Knecht kam, ihn auszuspannen. Seitdem Jadlowker eingesperrt war, betrachtete der Knecht den Eichmeister Eibenschütz als den legitimen Besitzer der Grenzschenke. Es war ein alter Knecht, ein ruthenischer Bauer. Onufrij hieß er, und taub war er auch. Man hätte glauben können, er verstünde nichts, aber er begriff alles, vielleicht, weil er so taub und so alt war. Manche, die wenig hören, sind imstande, gar viel zu bemerken.
Der Eichmeister setzte sich an den Tisch am Fenster. Er trank Met, und gesalzene Erbsen aß er dazu. In untertäniger Freundlichkeit näherte sich ihm Kapturak, zu gar keinem anderen Zweck, als um ihm guten Tag zu sagen. Der Eichmeister haßte diese untertänige Vertraulichkeit. Merkwürdigerweise mußte er selbst feststellen, daß ihn seine wachsende Empfindlichkeit gegenüber den Vorgängen der Natur auch empfindlicher machte gegen die Schlechtigkeit der Menschen. Es erschien dem Eichmeister ungerecht, daß Jadlowker verurteilt war, während Kapturak frei herumlief. Schade, daß Kapturak keinen Anhalt bot, einer Gesetzesübertretung überführt zu werden. Er hatte keinen offenen Laden, keine Waagen, keine Gewichte. Eines Tages aber würde man ihn trotzdem noch fassen.
Eibenschütz trank noch eine Weile, dann erhob er sich und befahl der Schankmagd, Euphemia zu rufen. Er stellte sich am Ende der Treppe auf, um die Frau zu erwarten.
Immer noch brachte Kapturak jeden Tag, das heißt eigentlich jede Nacht, russische Deserteure in die Grenzschenke. Man verdiente viel an ihnen, denn sie waren Trostlose und Verzweifelte, und Verzweifelte und Trostlose gaben Geld aus. Aber es gab auch Spitzel unter ihnen, die ihre Schicksalsgenossen anzeigten und auch sonst manches von den Zuständen an der Grenze anzeigten. Eine polizeiliche Überwachung zu üben lag nun zwar keineswegs in der Aufgabe eines Eichmeisters noch in der Natur des Anselm Eibenschütz. Er aber gab acht und bemühte sich, Reden zu hören und Gesichter zu behalten. Widerlich war es ihm, und dennoch tat er es.
Euphemia befand sich nicht oben in ihrem Zimmer, sondern nebenan im offenen Laden, wo sie den Bauern Terpentin, Grütze, Tabak, Heringe, Sprotten, Lack- und Silberpapier und blaue Farbe zum Tünchen verkaufte. Nur an zwei Tagen in der Woche war der Laden geöffnet, am Montag und am Donnerstag. Heute war Donnerstag. Vergeblich wartete Eibenschütz am Fuß der Treppe. Euphemia kam zu seiner Überraschung.
Sie gab ihm die Hand, und er erinnerte sich, wie diese Hand vor ein paar Wochen im Frühling durch die silberblaue Nacht dahergekommen war, dahergeschwommen war. Er faßte die Hand und hielt sie lange, länger, als ihm schicklich erschien, aber was sollte er tun? »Was wollen Sie von mir?« fragte Euphemia.
Er wollte sagen, er sei pflicht- und dienstgemäß hierhergekommen, aber er sagte: »Ich wollte Sie wiedersehen!«
»Kommen Sie in den Laden«, erwiderte sie, »ich habe keine Zeit, die Kunden warten.«
Er ging in den Laden.
Der goldene Sommerabend war schon angebrochen. Die Deserteure in der Schenke sangen. Sie tranken Tee und Schnaps und wischten sich den Schweiß von den Gesichtern, nach jedem Schluck. Jeder von ihnen hatte ein Handtuch um den Hals hängen. Einen Augenblick hielten sie im Singen ein, als Euphemia und der
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