Das Falsche Gewicht
dritte. Man wartet vergeblich auf Euphemia. Man verliert alle drei Partien.
Verloren ist auch der Tag, verloren ist auch die Nacht. Man weiß nicht, was man machen soll. Man spricht kein Wort, auch nicht zu Kapturak. Man wartet auf Euphemia. Sie kommt nicht.
Gegen drei Uhr nachts begann ein Deserteur, Ziehharmonika zu spielen. Er spielte das Lied: »Ja lubyl tibia« – und alle begannen zu weinen. Sie weinten nach der Heimat, die sie eben selbst aufgegeben hatten. Sie hatten mehr Sehnsucht nach der Heimat in diesem Augenblick als Sehnsucht nach der Freiheit.
Allen standen Tränen in den Augen. Trocken blieben nur die Augen Kapturaks. Auch eine Ziehharmonika konnte ihn nicht rühren. Er selbst brachte die Deserteure über die Grenze. Er lebte davon. Er lebte von dem Heimweh der Deserteure, von ihrer Sehnsucht nach der Freiheit.
Selbst der Eichmeister Eibenschütz wurde wehmütig. Er lauschte der Melodie: »Ja lubyl tibia« – und er fühlte seine Augen feucht werden. Kapturak fragte, fast in dem Augenblick, in dem die Ziehharmonika zu spielen anfing, ob Eibenschütz nicht eine neue Partie spielen wollte. – »Ja«, sagte Eibenschütz, »warum nicht?« Und sie spielten die vierte Partie Tarock. Eibenschütz verlor wieder.
Der Morgen graute schon, als Eibenschütz aufstand. Er ging die Treppe hinauf und mußte sich mit beiden Händen am Geländer festhalten.
Er torkelte in sein Zimmer. In den Kleidern legte er sich aufs Bett, so wie einst während der Manöver. Er schlief traumlos und ganz ruhig. Das erste Vogelgezwitscher weckte ihn. Er erhob sich sofort, zugleich auch wußte er, wo er sich befand: in der Grenzschenke, und er verwunderte sich darüber keineswegs.
Er hatte keinerlei Zeug sich zu waschen. Er konnte sich nicht rasieren. Es bekümmerte ihn. Er kam sich beschmutzt und auch verletzt vor. Dennoch ging er hinunter.
Der kräftige Sommermorgen strömte heftig durch die geöffneten Fenster. Auf dem Fußboden schliefen noch die Deserteure. Auch die Morgensonne vermochte nicht, sie zu wecken, und nicht der schmetternde Gesang der morgendlichen Amseln.
Mitten zwischen schlafenden Deserteuren, die zu seinen Füßen lagen, saß Eichmeister Eibenschütz und trank Tee.
Onufrij bediente ihn. »Wo ist Euphemia?« fragte der Eichmeister. »Ich weiß nicht«, sagte Onufrij. »Ich möchte sie sehen«, sagte Eibenschütz. »Ich habe ihr etwas Wichtiges zu sagen.«
»Gut«, sagte Onufrij – und Eibenschütz blieb sitzen. Sie kam auch bald, Euphemia. Er schämte sich vor ihr, ungewaschen, wie er war, und mit dem Bart von gestern.
»Ich habe die ganze Nacht auf Sie gewartet«, sagte er.
»Nun werden Sie mich ja sehen können!« antwortete sie. »Sie bleiben ja hier?«
Er hatte gar nicht gewußt, daß er hierhergekommen war, um hierzubleiben. Wie einfach war das. Natürlich! Was hatte er denn zu Hause zu suchen? »Ja, ja«, sagte er zur offenen Tür hinaus in den jungen Morgen. Die Männer auf dem Boden erwachten langsam. Sie hockten noch eine Weile stumpf da, dann rieben sie sich die Augen, dann erst schienen sie zu merken, daß es Morgen war. Sie erhoben sich und gingen, einer nach dem anderen, hinaus in den Hof zum Brunnen, um sich zu waschen.
Eibenschütz blieb allein mit Euphemia in der großen Schankstube, die sich plötzlich geweitet hatte. Es war, als dehnte sie der Morgen immer weiter aus. Es roch nach dem Morgen und auch nach dem Gestern, nach den Kleidern und dem Schlaf der Männer und nach Branntwein und Met und auch nach Sommer und auch nach Euphemia. Alle Gerüche stürmten jetzt auf den armen Eibenschütz ein. Sie verwirrten ihn, und er unterschied sie doch genau.
Gar vieles, sehr vieles ging in seinem Kopf durcheinander. Er begriff, daß er nichts mehr Vernünftiges sagen könnte, und er mußte doch etwas tun, und Euphemia saß neben ihm. Er umfing sie plötzlich und küßte sie herzhaft und heftig. Dann, als die Männer vom Brunnen sich wieder der Tür näherten, sagte er, schlicht und redlich: »Ich liebe dich!«, und schnell stand er auf. Er ließ einspannen. Er fuhr heim, seine Sachen holen.
XXV
Solang der Sommer dauerte, war Eibenschütz glücklich. Er erfuhr die Liebe und alle seligen Veränderungen, die sie einem Manne bereitet. Bieder und einfach, wie er war, mit etwas schwerfälligem Gemüt, erlebte er die erste Leidenschaft seines Lebens gründlich, ehrlich, mit allen Schauern, Schaudern, Seligkeiten. Nicht nur nachsichtig, auch nachlässig übte er in dieser Zeit seinen Dienst aus.
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