Das Falsche Gewicht
Die langen Sommertage waren nur kleine Zugaben zu den kurzen, ausgefüllten, starken Nächten. Was man bei Tage, ohne Euphemia, tat, war ohne Belang.
Nach Hause, zu seiner Frau, kam Eibenschütz kaum einmal in der Woche. Er kam aus einer Art von sporadischem Pflichtgefühl und der Leute wegen. Sie wußten alle, daß er mit der Frau Jadlowkers lebte, aber da er so milde und nachlässig geworden war, sahen sie ihn auch mit milden oder mindestens mit gleichgültigen Augen an. Er kümmerte sich übrigens nicht um die Aufgabe, die man ihm aufgetragen hatte. Das Gasthaus und den Laden versorgte Euphemia allein, und auch um die Papiere der Leute, die über die Grenze kamen, kümmerte sie sich, und die Namen trug sie selbst mit ihrer hilflosen Schrift in das große Buch, in das die Gendarmen nur selten und flüchtig zu blicken pflegten.
Nun, es kam der Herbst. Und wie in jedem Herbst kam der Maronibrater Sameschkin nach Szwaby, Sameschkin aus Uchna in Bessarabien. Er war ein entfernter Verwandter Euphemias; sie sagte es jedenfalls. Es war ihr Geliebter, es war kein Geheimnis, alle Welt wußte es. Jadlowker hatte sich mit ihm gut vertragen. Sameschkin kam immer im Oktober. Er blieb über den Winter. Er kam mit vielen Säcken Kastanien und mit seinem kleinen Bratofen auf vier mageren schwarzen Füßen. Er sah sehr fremd aus und so, als hätte man auch ihn gebraten. Die Sonne von Bessarabien und vom Kaukasus und von der Krim hatte ihn so gebraten. Seine kleinen, schnellen Augen erinnerten an die Holzkohlen, auf denen er seine Kastanien briet, und sein schmaler, langer Schnurrbart, der an eine schöngeschwungene Gerte aus Haaren gemahnte, war schwärzer noch als der eiserne Ofen. Hände und Angesicht waren braun wie Kastanien. Auf dem Kopf trug er eine hohe Pelzmütze aus Astrachan und um den Leib einen weißen, stark berußten und fettigen Schafspelz. Er hatte große, geradezu gewaltige Kniestiefel mit sehr weiten Schäften. In seinem Gürtel steckte ein schwerer Stock aus Weichselholz, unten mit einer vierkantigen Eisenspitze versehen. Also war er vollkommen ausgerüstet für einen harten Winter und für einen harten Beruf.
Er war ein gutmütiger, sogar weichherziger Mann. Er redete ein Gemisch von vielen Sprachen, das keiner in dieser Gegend verstand. Man nannte ihn hier einfach den »Zigeuner«; und nur wenige wußten, daß er Sameschkin hieß. Konstantin Sameschkin hieß er. Für einen Dreier verkaufte er zwanzig Kastanien, pro Stück verkaufte er seine Ware. Er lächelte oft, unter seinem schwarzen Schnurrbart erschienen groß und weiß seine Zähne. Sie erinnerten an weiße Klaviertasten.
Es gab im ganzen Bezirk noch zwei andere Maronibrater, einen sogar in Zlotogrod. Aber sie waren nicht so geschätzt wie Sameschkin, der Zigeuner. Aus der ganzen Gegend kamen viele Leute, Kastanien bei ihm zu kaufen, rohe und gebratene. Die rohen verkaufte er das Pfund für einen Zehner.
Freilich wußte auch Eibenschütz, daß Sameschkin der Geliebte Euphemias war. Früher war Sameschkin mit seinen Kastanien durch andere Länder, andere Gegenden gezogen. Jeden Winter hatte er woanders erlebt. Aus biederer Treue zu Euphemia kam er nunmehr seit Jahren nach Szwaby. Im Sommer lebte er als Gelegenheitsarbeiter in Uchna in Bessarabien. Einmal half er bei den Holzfällern aus, ein anderes Mal bei den Köhlern, manchmal grub er Brunnen, manchmal leerte er Mistgruben. Niemals noch hatte er eine größere Stadt gesehen als Kischinew. Harmlos, wie er war, glaubte er, daß ihm Euphemia treu sei. Während des Sommers erzählte er dem und jenem, jeden Herbst ginge er zu seiner Frau. Angestellt sei sie in der Grenzschenke in Szwaby und könne nicht überall mit ihm hin. Er freute sich herzlich auf den Herbst, wie andere auf den Frühling.
Es half dem armen Eibenschütz gar nichts, daß er Sameschkins Gutmütigkeit erkannte. Im Gegenteil: er hätte viel eher gewünscht, Sameschkin wäre ein Bösewicht gewesen. Ohnmächtig und mit herzlichem Kummer sah er zu, wie Sameschkin und Euphemia sich begrüßten. Sie fielen einander in die Arme. Herzhaft und kräftig lagen die rostbraunen, großen, schlanken Hände des Zigeuners auf dem Rücken Euphemias und preßten sie, und mit wahrhaftigem Entsetzen dachte Anselm Eibenschütz an die guten Brüste Euphemias – sein waren sie ja!
Sameschkin hatte seine Geräte auf einem Karren mitgebracht wie jedes Jahr. Den Karren zog ein Pudel. Den Pudel und den Karren stellte Sameschkin im Schuppen des Gasthofs ab. Vor
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