Das Falsche in mir
gebückter als früher und meide die Blicke Fremder, als könnten ausgerechnet Menschen, die überhaupt nichts mit mir zu tun haben, sehen, was nicht einmal meine Familie wahrnimmt.
Ich bin auf einmal wieder in demselben Gefühlsdickicht verfangen wie damals mit fünfzehn. Ich fahnde nach Marion, dem Typus Marion in seinen unterschiedlichsten Ausprägungen, als könnte ich sie zum Leben erwecken, wenn ich nur gründlich genug nach ihr suchen würde. Ich bin so in Gedanken, dass ich an dem Haus vorbeilaufe, in dem sich die Agentur befindet. Erst nach fünfzig Metern bemerke ich meinen Irrtum und kehre um.
Dabei kann man den kleinen Betrieb gar nicht übersehen, die Mitarbeiter sitzen im Erdgeschoss hinter großen, von der Straße aus einsehbaren Fensterfronten. Ich hoffe, niemand von ihnen hat mich bemerkt.
Der Chef begrüßt mich freundlich, bietet mir einen unbequemen, aber modern und chic aussehenden Stuhl an und möchte nun alles noch einmal erfahren, was ich bereits seinem Stellvertreter erklärt habe. Weil das ein bekanntes Phänomen ist, versuche ich immer, von Anfang an beim tatsächlichen Entscheider einen Termin zu bekommen. Vorgesetzte schicken aber gern erst mal ihre Bauern vor, um die Lage zu sondieren und eventuell einen Preisnachlass auszuhandeln. Sie selbst schalten sich erst in die Schlussverhandlungen ein, und dann fange ich in der Regel wieder von vorne an.
Ich erläutere ihm also die Vorteile unseres Sicherheitssystems gerade für einen Betrieb wie seinen, der schon aufgrund seiner von außen sichtbaren Computeranlage extrem einbruchsgefährdet ist. Sein Stellvertreter nickt verständig, weil er das ja alles schon kennt.
Schließlich kommen wir zum Abschluss, er unterschreibt und ich benachrichtige einen Mitarbeiter, der das System – einfach, preiswert, effektiv – einbauen wird. Wir schütteln uns die Hand, der Chef sieht glücklich und erleichtert aus. Er gesteht jetzt, dass er sich schon seit Monaten Sorgen um sein Equipment mache. Die Gegend sei im Kommen, werde immer trendiger, bleibe aber trotzdem unsicher. Ich nicke, lächle und sage hoffentlich das Richtige, aber wieder kommt es mir so vor, als wäre ich gar nicht da, als gäbe es mich nur als Phantom.
Wenn man in diesem Job keine Leichen sehen kann, sollte man ihn nicht machen. Deswegen findet Sina es nicht typisch, wenn sich in Krimis die Polizisten übergeben müssen, sondern unprofessionell. Obwohl es ihr selbst schon passiert ist. Manchmal vergisst sie das.
Niemand übergibt sich, als sie in diesem reizvoll verwilderten Garten vor Annes Leiche stehen, beziehungsweise knien. Es ist 23 Uhr. Die Spurensicherung ist schon abgezogen, dieFotos sind gemacht. Eines ist schon jetzt klar, nämlich dass die Leiche nach ihrem Tod hier abgelegt wurde.
Sie wurde nicht hier getötet, registriert Sina, weil sonst alles voll Blut wäre.
Man würde es auf dem Gras sehen, als klebrige dunkle Masse. Sie bückt sich, leuchtet den Boden mit ihrer Maglite noch einmal ab, um sicherzugehen. Aber da ist kein Blut. Trotz der tiefen Schnitte, die bis auf die Knochen gehen. Auch nicht an ihrem Körper. Das sieht man, weil Anne nackt ist. Man sieht auch, dass jemand sie gewaschen und gekämmt hat. Ihre Haare sind zwar nass geworden, weil es bis vor einer Stunde geregnet hat, aber sie sind nicht verklebt und schmutzig.
Sina sieht zum ersten Mal so eine Leiche, also eine Leiche, die nach ihrem Tod hergerichtet wurde. Normal sind halb verweste Leichen, von Kindern in versteckten Waldstücken oder von alten Leuten, die man erst in ihren Wohnungen findet, wenn sich die Nachbarn über den Gestank beschwert haben.
Man glaubt es nicht, weil Leyden so eine bezaubernde Fachwerkhäuserstadt ist, in einem schönen Tal, umgeben von Laubwäldern und sanften Hügeln. Man denkt, dass so was hier nicht passieren kann, dass sich die Leute umeinander kümmern, aber das ist falsch. In Leyden kann einem alles passieren. Sina kann das beurteilen, ihr ist alles in Leyden passiert.
Und wenn man einmal hier ist, weiß sie, kommt man nicht mehr heraus. Das Tal hält einen fest. Man kann nicht über die angrenzenden Hügel hinwegschauen, und es gibt keinen Horizont, hinter dem es weitergehen könnte.
»Hey, Rastegar«, sagt Gronberg.
Er stellt sich neben Sina und betrachtet die Leiche.
»Hey«, sagt sie.
»Sie ist geschminkt.«
Er hat recht. Man sieht es an der vom Regen verschmierten Wimperntusche unterhalb der Augen. Sina beugt sich zu Anne herunter, deren Seele weiß
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