Das Falsche in mir
Pläne, die ich wieder vergesse, richte es mir in meinem gespenstischen Reich zwischenWirklichkeit und süßem Albtraum so komfortabel wie möglich ein, bis mir schlagartig klar wird, dass ich ganz anders an die Sache herangehen muss.
Ich muss mich meinen inneren Dämonen stellen und gleichzeitig stark genug sein, um zu widerstehen. Nur so wird es möglich sein, mich in den Täter einzufühlen, zu denken und zu handeln wie er. So paradox das klingt, aber das ist mein großes Plus, mein Vorteil, den ich allen anderen voraushabe.
Und es ist meine einzige Chance.
Ich habe keine Zeit zu warten, bis er das nächste Mal tötet, womöglich noch bestialischer als dieses Mal, und dann ein genaueres Muster aus Zeit, Ort und Opfer erkennbar wird. Vielmehr muss ich mich beeilen, denn die Polizei ist mir dicht auf den Fersen, mein Geld wird nicht ewig reichen, und es ist mittlerweile zu kalt, um in den Wäldern um Leyden zu übernachten. Jeder Tag, der vergeht, ohne dass ich der Lösung näherkomme, ist ein verlorener Tag, und davon gibt es bislang schon zu viele.
Ich fühle mich auf trügerisch angenehme Weise matt, als ob die überstürzte Flucht bereits alle meine Kräfte verbraucht hätte. Ich schlafe zu wenig, wache erschöpft auf und bleibe morgens zu lange im Bett. Viele ungenützte Minuten vergehen, während ich döse oder auf das verschmutzte Fenster starre und den an- und abschwellenden Verkehrsgeräuschen der Bahnhofstraße zuhöre wie einer einschläfernden Melodie.
Meine Gedanken bewegen sich dabei in seltsamen Schleifen. Ich denke an den Mörder, der ich sein könnte, und versuche im selben Atemzug zu vergessen, dass ich vielleicht auf der Suche nach mir selbst bin.
Manchmal gelingt mir das, manchmal wechselt meine Stimmung aber auch abrupt, lässt den Wahnsinn auflodern wie Glut, in die jemand Benzin gegossen hat. Dann springe ich aus dem Bett und laufe barfuß auf dem knarrenden Holzboden hinund her, reiße das Fenster auf, damit mich Kälte, Regen und Autolärm wieder zur Besinnung bringen, rauche eine Zigarette nach der anderen und schnippe die Asche achtlos nach draußen, um mich mit so viel Wucht aufs Bett zurückzuwerfen, dass die Sprungfedern quietschen.
Mein Rücken schmerzt, meine Haut spannt, als wollte sie reißen, und ich habe herrliche, schreckliche Visionen von Anne, stelle sie mir nackt vor, übersät mit blutigen Schnitten wie eine obszöne Pieta, eine Leidensgestalt von überirdischer Schönheit und Ängstlichkeit, eine Göttin des Schmerzes. Ich spule den Film an den Anfang zurück, um meine süße Qual zu verlängern, sehe ihren noch heilen weißen Leib so plastisch vor mir, als wäre er real, spüre das Messer in meiner Hand wie eine sich windende Schlange und den unwiderstehlichen Drang, ihre provozierende Unversehrtheit zu beschädigen.
Und dabei weiß ich doch, dass das Ergebnis der rauschhaften Zerstörung eine furchtbare Enttäuschung sein wird, tausendmal niederschmetternder als bei einem Kleinkind, das seine Puppe kaputt gemacht hat.
Und trotzdem auf unheimliche Weise vergleichbar.
Mittlerweile ist der Öffentlichkeit einiges bekannt, unter anderem, welche Schule Anne besucht und in welcher Gegend sie gewohnt hat.
Einige ihrer Freunde wurden interviewt, allerdings wurden dabei nur ihre Vornamen veröffentlicht. Auch Details des Mordes wurden von einem Boulevardsender ausgegraben, aber nicht von der Polizei bestätigt.
Demnach gibt es keine DNA -Spuren und keine Hinweise auf sexuellen Missbrauch. Was aber nichts heißen muss; der Mörder kann auch ein Kondom benutzt haben. Die Schnitte wurden mit einem extrem scharfen Messer beigebracht, wie man sie beispielsweise in Profiküchen findet. Viele der insgesamtzweiunddreißig Schnitte gingen bis auf den Knochen. Das Opfer war fast ausgeblutet.
Ich weiß also, dass der Täter dasselbe sucht wie ich, ich spüre seine Verzweiflung bei der Erkenntnis, dass seine Sehnsüchte kein erreichbares Ziel haben.
Was, wenn ich ihn nicht finde?
Was, wenn ich mich finde?
Am sechsten oder siebten Tag meiner Flucht wache ich auf, sehe nichts und weiß sekundenlang nicht mehr, wer ich bin und wo ich bin.
Starr und schwitzend liege ich auf dem Bett und warte auf ein Wort, ein Bild, etwas, das mich rettet vor der namenlosen Finsternis meiner Existenz. Schließlich schält sich das graue Quadrat des Zimmerfensters aus der Dunkelheit, ich höre das Gebimmel der Straßenbahn unter mir, und mir fällt alles wieder ein.
Ich bin ein Niemand. Es gibt
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