Das Falsche in mir
sie zuckt zusammen. Ich nehme die Hand wieder weg und sie schaut auf, voller Angst wie ein geprügeltes Kind.
»Ich war es nicht«, sage ich und lege so viel Überzeugungskraft in meine Stimme, wie ich kann. Sie senkt den Kopf, reagiert nicht.
»Ich schwöre es«, sage ich noch.
Alles muss nun sehr schnell gehen, bevor Birgit begreift, was ich vorhabe. Ich würde es ihr gerne sagen, aber ich kann nicht einschätzen, ob sie mich verraten würde oder nicht.
Dann verlasse ich die Küche, unsere Wohnung, mein bisheriges Leben.
Während ich versuche, so leise wie möglich die Treppe hinunterzugehen, überlege ich mir die nächsten Schritte: Ich werde vom Schlafzimmerfenster der Stegners aus in den Hinterhof springen und dann hoffen, dass ich die etwa zwei Meter hohe Backsteinmauer hochkomme, die den hübsch begrünten Innenhof umschließt. Für einen guten Sportler wie mich dürfte das kein Problem sein.
Im ersten Stock höre ich bereits die aus dem Erdgeschoss hallenden und leicht gedämpften Stimmen von Gronberg und Rastegar. Behutsam schließe ich die Tür der Stegners auf, höre atemlos den Schlüssel im Schloss knacken, husche hinein undmache die Tür vorsichtig wieder zu. Ich bin nicht aufgeregt und nicht ängstlich. Aber meine Sinne sind auf Empfang gestellt wie bei einem Tier auf der Jagd.
Ich öffne das Fenster und zögere einen Moment. Wenn ich das jetzt tue, werde ich alles verlieren.
Ich denke an Birgit, meine Töchter, mein Zuhause, meinen Job, an alles, was vorbei ist.
Ich springe.
6
Der Teufel spricht zu mir, Tag und Nacht. Er lacht über meine Bemühungen, gut zu sein, und macht mir den Reiz des Bösen schmackhaft. Unter seinem Einfluss werde ich matt und grau, aber meine Träume sind kraftvoll, farbig und von herrlicher Grausamkeit.
Ich habe mich schnell an das Nomadenleben gewöhnt, an die Existenz im Untergrund, die am ehesten meinem Charakter entspricht. Sich maskieren, vorzugeben, ein anderer zu sein, das ist mir vertraut. Damit kenne ich mich aus.
Ich habe meine grauen halb langen Haare ganz kurz geschnitten, dunkelblond gefärbt und eine schmale Brille mit Fensterglas gestohlen. Ich trage jetzt modern geschnittene Jeans, feste Schuhe, sportliche Hemden und einen Dreitagebart, der mich im Spiegel wie einen Universitätsdozenten aussehen lässt, der jünger wirken will, als er ist. Diese marginalen Veränderungen zeigen Wirkung. Obwohl mein Foto in sämtlichen lokalen wie überregionalen Zeitungen abgebildet ist und auch mehrfach im Fernsehen gezeigt wurde, bin ich niemandem aufgefallen.
Noch immer habe ich den Kampf nicht aufgegeben um mein helles, präsentables, langweiliges, höfliches Ich, mein freundliches Leben ohne Höhepunkte und Abstürze. In meinen besten Momenten nähre ich solche sinnlosen Hoffnungen. Dann habe ich nicht das Gefühl, auf Treibsand zu stehen. Dann überwältigt mich nicht die Versuchung, alles hinter mir zu lassenund das zu tun, was mir Gott oder der Teufel oder meine Veranlagung vorgegeben haben.
Ich wohne jetzt in einem billigen Hotel am Hauptbahnhof, wo im Sommer junge ausländische Rucksacktouristen absteigen, die auf die Schnelle keine andere Bleibe gefunden haben. Der Inhaber ist ein südländisch aussehender Mann und spricht mit einem starken Akzent. Er ist klein und dunkel, zwischen sechzig und siebzig Jahre alt und raucht würzig riechende, sehr starke Zigaretten. Nachts kommen Freunde oder Geschäftspartner, und sie verbringen Stunden mit Palavern in einem Nebenraum der Rezeption.
Er scheint sich nicht im Geringsten für seine Gäste zu interessieren.
Dennoch bin ich auf der Hut. Ganz bestimmt ist die Polizei bereits dabei, sämtliche Hotels zu durchkämmen. Vielleicht vermuten sie mich auch ganz woanders, können sich gar nicht vorstellen, dass ich den Ort meines angeblichen Verbrechens nicht so weit wie möglich hinter mir lasse.
Aber natürlich kann ich jetzt nicht weg.
Ich suche und grüble. Auf mein Gedächtnis kann ich mich nicht verlassen, der Alkohol hat sämtliche Erinnerungen so gründlich verschüttet, als habe es diese verhängnisvolle Nacht nie gegeben. Nach wie vor erinnere ich mich als Letztes nur noch an die Frau, die mir einen Drink spendierte.
Möglicherweise könnte sie mir weiterhelfen, aber selbst wenn ich sie wiedersehen würde, wäre es zu riskant, sie zu fragen.
Vielleicht hat sie sogar schon vor der Polizei ausgesagt.
Die Stunden fügen sich zu Tagen, sie fließen mir davon, ich sehe ihnen hinterher. Ich schmiede
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