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Das Falsche in mir

Das Falsche in mir

Titel: Das Falsche in mir Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Christa Bernuth
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mein Tischchen setzt und einschenkt.
    »Haben Sie keine Familie?«, frage ich.
    »Geschieden. Meine Frau und meine Kinder sind zurück nach Griechenland.« Ein Schatten fällt über sein Gesicht, dann lächelt er wieder, aber so, als würden ihm gleich die Tränen kommen.
    Zwei Stunden später verabschiede ich mich, nur leicht betrunken, aber erschöpft von der Anstrengung, mir eine Lebensgeschichte auszudenken, die nicht zu kompliziert ist und einigermaßen glaubwürdig klingt: geschieden, auf der Durchreise, auf der Suche nach einer neuen Frau, keine Kinder, Eltern gestorben.
    Und mindestens so einsam wie Vassilis.
    Um halb zwölf liegen wir uns in den Armen, und ich gebe das Versprechen ab, ihn zu besuchen, wenn ich das nächste Mal in Leyden bin.
    »Mein Freund«, sagt er, und als ich ihm zuwinke und mit hochgezogenen Schultern hinaus in die Kälte gehe, überlege ich, ob das jemals schon jemand zu mir gesagt hat.
    Im »Jensen« ist es so voll, dass mir der Mut sogleich schwindet. Die Musik dröhnt, und ich verstehe nicht mehr, was ich hier eigentlich will. Ich kämpfe mich durch bis zur Bar, wo es im Gewühl mindestens fünf Minuten dauert, bis ich endlich ein Bier bestellen kann.
    Ich sehe nur Frauen und Männer im Studentenalter. Kein Mädchen sieht jünger aus als zwanzig, keines so wie Anne, und die schwarzhaarige Frau kann ich ebenfalls nicht entdecken.
    Ich setze mich auf einen Barhocker. Wieder sehe ich mich im Spiegel hinter einer farbenfrohen Flaschenbatterie. Ich stelle fest, dass ich abgenommen habe. Mein neuer Look und das gedämpfte Licht schmeicheln mir und lassen mich deutlich jünger erscheinen.
    Heute besteht keine Gefahr, dass ich mich betrinke, dafür bin ich zu nervös. Eine Frau um die dreißig stellt sich dicht neben mich, aber es ist nicht dieselbe wie damals. Sie scheint ebenfalls allein hier zu sein und wartet ganz offensichtlich darauf, angesprochen zu werden. Ich ignoriere das und gebe den einsamen Wolf. Dabei versuche ich unauffällig, im Spiegel die Anwesenden zu mustern.
    Nichts. Nur Gesichter, hübsche, erhitzte, fröhliche, eitle oder verlegene Gesichter, die nichts in mir auslösen. Ich bezahle mein zweites Bier und bewege mich langsam durch das Gedränge, als würde ich jemanden suchen.
    Und das tue ich ja auch.
    Schließlich sehe ich die optische Zwillingsschwester von Anne. Fräulein Wer-auch-immer-Johansson. Sie sitzt an einem Vierertisch mit zwei Freundinnen. Sie kichert, wirft beim Lachen den Kopf zurück, ihr Pagenkopf leuchtet, ihr Teint wirkt zart, fast transparent. Ein ganz leichter Schweißfilm liegt auf ihrer weißen Stirn.
    Meine Beine beginnen zu zittern. Einen Moment lang vergesse ich alles, selbst, dass ich auf der Flucht bin. Stimmen flüstern in meinem Kopf, dass ich mich dem Schicksal nicht in den Weg stellen soll, dass mich alle Götter an diesen Ort geführt haben, um meiner Bestimmung nachzukommen.
    Ich stehe in der Mitte des Raums, alles scheint sich um mich zu drehen. Mein Blick sucht Halt und klammert sich an einem Augenpaar fest.
    Braune Augen mit langen Wimpern, die mich fixieren, mich durchschauen, mich verstehen, mich lieben, mich verachten.
    Das Gesicht bleibt verschwommen.
    Ich nehme einen Schluck Bier aus der Flasche, um meine rasende Angst in den Griff zu bekommen.
    Anschließend ist das Augenpaar verschwunden. Stattdessen sehe ich Sina Rastegar in ihrer schwarzen Lederjacke, die sich suchend umsieht. Ich weiß, dass ich sofort verschwinden muss. Sie hat mich in natura gesehen, nicht auf einem schlechten Foto, und sie wird sich von meiner Maskerade nicht täuschen lassen.
    Sina Rastegar steht ein paar Schritte neben dem Ausgang, ebenfalls mit einer Flasche Bier in der Hand, wahrscheinlich um nicht aufzufallen. Ein Mann spricht sie an, sie lächelt ihn kurz und abweisend an, ohne zu antworten.
    Sie hat ihre Augen überall. Ich werde auf keinen Fall unbemerkt an ihr vorbeikommen.
    Langsam ziehe ich mich in die Menge zurück und versuche, sie dabei nicht aus den Augen zu verlieren. Sie lässt ihrerseits den Blick schweifen. Das »Jensen« ist nicht besonders groß, sie wird mich irgendwann entdecken. Plötzlich schüttelt sie ganz leicht den Kopf. Ist das ein Signal an eine zweite Person? Natürlich, es gibt keine andere Erklärung für diese Geste. Vielleicht sind sie auch zu dritt oder zu viert. Eigentlich wäre das logisch. Vier Polizisten, postiert an strategisch günstigen Plätzen. Vor der Toilette, an einem der Tische, an der Bar, an der

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