Das Falsche in mir
plötzlich stehe ich vor einer Tür. Esist eine schwere Tür, eine Feuertür. Ich weiß, dass ich sie nicht aufmachen sollte, aber ich weiß auch, dass mir nichts anderes übrig bleiben wird. In diesem Gang kann ich jedenfalls nicht bleiben. Hier würde ich sterben. Ich rieche das Gift, das mich innerlich verätzen wird.
Ich öffne die Tür und das Entsetzen schlägt über mir zusammen.
Es ist Mittwochmorgen, halb vier.
Alles schwarz.
Ich stehe auf, ziehe mich im Dunkeln an. Es ist vielleicht der letzte Tag in Freiheit, keine angenehme Freiheit, zugegeben. Nur wer jahrelang darauf verzichten musste, kann mich verstehen: Die Möglichkeit, hinzugehen wo immer und wann immer man möchte, ist durch nichts zu ersetzen. Man schätzt es erst, wenn man nicht mehr kann.
Während ich mir sorgfältig die Zähne putze und anschließend mit Zahnseide die Zwischenräume reinige – ein absurd zivilisierter Akt in meiner Situation, aber es gehört zu den wenigen Alltagsritualen, von denen ich nicht lassen kann –, denke ich an die Zeit nach meiner Entlassung. An meine Versuche, Fuß zu fassen in einer Welt, die ich nicht mehr erkannte.
Frauen trugen jetzt Kostüme mit breitschultrig ausgepolsterten Jacketts und Schuhe mit mörderisch hohen Absätzen, Männer versteckten ihr schmales Ich in übergroßen Blazern und überweiten Hosen. Turnschuhe waren keine Turnschuhe mehr, sondern abnormal dimensionierte Klötze in absurd hässlichen Farbkombinationen. Selbst die Autos wirkten gröber und brutaler in ihrer neuen, kompakten Windschnittigkeit.
Aber vielleicht war das alles eine optische Täuschung, vielleicht hatten mich die Jahre im Gefängnis auch verkleinert. Zwei Wochen später fielen mir die Veränderungen jedenfalls nicht mehr auf, zwei Monate später trug ich selbst Klötze anden Füßen und die richtigen Jeans, verschwand in der Masse der Studenten einer fremden Stadt, in der sich kein Mensch für mich interessierte und ein Allerweltsname wie Lukas Kalden längst nicht mehr in Verbindung mit einem der grässlichsten Verbrechen des letzten Jahrzehnts gebracht wurde.
Ich verlasse mein Zimmer und steuere auf den Lift zu. Der Boden mit seinem gemusterten Teppich schluckt alle Geräusche. Wieder ist es so, als wäre meine Existenz nur ein Traum. Es gibt mich nicht. Taptaptap. Es gibt mich nicht. Es gibt nur eine Idee von mir, nichts Stoffliches. Es riecht nach muffigen Gardinen und chemischen Reinigungsmitteln, die Luft ist dick, gesättigt mit Staub. Ich stelle mir den Staub vor, wie er sich auf meinen Lungen ablagert, und muss husten.
Ich drücke auf den Knopf und höre, wie sich der Lift in Bewegung setzt. Der Lift ist innen golden und verspiegelt. Ich will mich nicht sehen und schließe die Augen, bis ich unten angekommen bin. Die Lifttür öffnet sich in die leere, karg beleuchtete Lobby. Die Rezeption ist dunkel und verwaist.
Ich gehe langsam und so leise wie möglich vorbei zum Ausgang. Die Tür ist abgesperrt, aber mit dem Zimmerschlüssel kann man sie aufschließen.
Es ist Viertel nach vier, als ich auf die Nibergstraße trete. Tagsüber ist der Verkehr enorm, aber jetzt herrscht eine fast gespenstische Ruhe. Es hat schon wieder geschneit, eine dünne, flusig aussehende Schicht bedeckt den Bürgersteig, die parkenden Autos, die Straßenlaternen. Ich beschließe, Richtung Hauptbahnhof zu gehen, weil dort am ehesten die Chance besteht, um diese Zeit etwas zum Frühstücken zu bekommen. Ich habe gestern ein bisschen von Vassilis’ Proviant verzehrt, aber ansonsten überhaupt nichts gegessen. Trotzdem überrascht es mich, wie hungrig ich bin. Meine Schritte beschleunigen sich, bis ich fast in eine Art Dauerlauf verfalle. Eine Gruppe von sechs, sieben männlichen Nachtschwärmern kommt mir entgegen, alle etwa in meinem Alter oder älter,wohlgenährt, schlecht angezogen und betrunken. Ich weiche auf die andere Straßenseite aus, nicht weil ich Angst hätte, erkannt zu werden, sondern weil mir diese lärmende Horde unangenehm ist.
Das hätte ich besser nicht getan.
»Hast du was gegen uns?«, brüllt einer, und die Gruppe bleibt stehen, beobachtet mich beim Überqueren der Straße. Ich ziehe automatisch die Mütze tiefer in die Stirn.
»Hey, warte mal.«
Ich gehe weiter, ein Adrenalinstoß durchfährt mich. Zu meinem Entsetzen merke ich, dass die Gruppe offenbar beschlossen hat, mich zu verfolgen. Ich gehe schneller, aber sie haben mich bald eingeholt.
Einer legt den Arm um mich, bläst mir seinen Alkoholatem
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