Das Falsche in mir
damit.«
»Ja«, sagt Sina. Sie spürt, dass Matthias ihr eine Hand auf die Schulter legt, sie kurz drückt, tröstend, als ob er wüsste, was in ihr vorgeht.
Dabei kann er eigentlich keine Ahnung haben.
Montagabend. Ich bin auf der Straße. Wieder einmal.
Vassilis hat einen Zettel an die Tür geklebt, auf dem steht: »Adieu, mein Freund. Bitte wirf deinen Schlüssel in den Briefkasten.« Darunter entdeckte ich mein spärliches Gepäck und etwas Proviant in einer Plastiktüte. Obst, Fladenbrot und Honig.
Sein Schlüssel steckte innen, sodass ich meinen nicht benutzen konnte. Ich habe ihn also in den Briefkasten geworfen, habe meine Sachen genommen und bin gegangen.
Ich kann ihn verstehen, ich bin ihm nicht böse. Im Gegenteil, ich rechne ihm hoch an, dass er die Polizei nicht alarmiert hat. Ich habe noch etwas Geld bei mir, das Geld, das ich beiVassilis nicht ausgeben musste, weil er wie ein wahrer Freund für mich gesorgt hat. Vernünftig wäre es, die Stadt zu verlassen, das Land zu verlassen, dieses alte Leben zu verlassen und irgendwo, sehr weit weg, neu anzufangen.
Aber Leyden lässt mich nicht los. Bis auf meine Studienjahre nach dem Gefängnis habe ich hier mein ganzes Leben verbracht, und das, obwohl mich die Stadt gehasst hat. Ich habe hier meine Eltern begraben, die mich ebenfalls gehasst haben. Ich habe Birgit kennengelernt, ich habe mit ihr Kinder gezeugt, ich habe mir hier einen Job gesucht. Als gäbe es keinen anderen Ort auf der Welt, wo man leben könnte, als in dieser Kleinstadt mit ihrer jahrhundertealten, ängstlich konservierten Fachwerkarchitektur von abgründiger Schönheit.
Ich muss Leyden meine Unschuld beweisen. Leyden und mir selbst.
Ich laufe durch die spärlich beleuchteten Straßen auf der Suche nach einer Unterkunft.
Meine letzte Chance ist der Mittwochabend.
Zwei Tage muss ich überleben.
Zwei Stunden später stehe ich vor einem Hotel im Bahnhofsviertel – nicht das, aus dem ich seinerzeit geflüchtet bin. Dieses hier befindet sich in einer Parallelstraße davon, der Nibergstraße, die zum Hauptbahnhof führt. Das Hotel heißt »Monsoon« und ist, soweit ich die Lobby von draußen aus überblicken kann, in orientalisch inspiriertem Stil eingerichtet. Sehr bunt – die vorherrschenden Farben sind blutrot und currygelb – mit arabesk gemusterten Teppichen an der Wand und geschnitzten Holzmöbeln. An der Rezeption sitzt ein schwarzhaariger Mann, der Inder sein könnte. Ich sehe nur sein Profil, aber sein Gesicht wirkt freundlich. Schließlich wendet er den Kopf in meine Richtung, und mir bleibt nicht mehr viel anderes übrig, als einzutreten, wenn ich mich nicht verdächtig machen will.
Ich gehe durch die Drehtür in das warme Innere. Meine Gesichtshaut spannt, ich lächle hoffentlich gewinnend, und der Inder, sofern es einer ist, lächelt zurück – nicht mechanisch, sondern als würde er es wirklich so meinen. Als würde er mich willkommen heißen.
Ich trage eine Mütze, die ich tief über Ohren und Stirn gezogen haben, aber meine Haare sind ohnehin wieder ganz kurz geschnitten. Vor zwei Tagen habe ich sie frisch gefärbt, und die Fensterglas-Brille verändert nicht nur meine Augen, sondern auf subtile Weise auch meinen Gesichtsausdruck – Vassilis hat mir bestätigt, dass ich meinem Fahndungsfoto nicht besonders ähnlich sehe. Allenfalls auf den zweiten Blick.
Ich habe also eine Chance. Die Mütze lasse ich trotzdem vorsichtshalber auf.
»Wie viel kostet bei Ihnen ein Zimmer für drei Nächte?«, frage ich.
»Ein Einzelzimmer?«
»Ja.«
Er nennt mir den Preis, der weder besonders hoch noch ausgesprochen niedrig ist. Ich könnte das gerade noch bezahlen. Aber ewig lang würde ich mich nicht mehr über Wasser halten können.
Wenn ich nicht bald weitergekommen bin, ist sowieso alles zu Ende.
Dann kann ich nicht mehr kämpfen.
»Ich zahle das Zimmer bar im Voraus«, sage ich schnell, damit er mich gar nicht erst nach meiner Kreditkarte fragt.
»Natürlich«, sagt der Rezeptionist. Er trägt einen rostbraunen Anzug aus billigem, polyesterähnlichem Stoff, eindeutig Arbeitskleidung. Am Revers prangt ein Schildchen mit einem sehr langen Namen, der mit D beginnt und mit …anda aufhört.
Ich lege ihm mehrere Scheine hin, er gibt mir heraus. Er fragt nicht nach meinem Pass, und ich muss mich auch sonst nicht ausweisen.
»Darf ich Ihnen jetzt das Zimmer zeigen«, sagt er stattdessen mit routinierter Liebenswürdigkeit. »Es ist sehr schön und geht nach hinten raus
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