Das Falsche in mir
– ganz ruhig. Morgen früh werden Sie nicht geweckt werden, es sei denn, Sie möchten es.«
»Danke, ich kann mir selbst helfen.«
Er lächelt, als ob er genau wüsste, was ich meine. Dann gibt er mir den Schlüssel, erklärt mir den Weg, und ich fahre in den dritten Stock. Ich überlege, ob Erdgeschoss nicht besser wäre, dann könnte ich im Fall des Falles aus dem Fenster flüchten. Aber eigentlich will ich nicht mehr flüchten.
Ich sehne mich nach diesem Zimmer und fürchte mich gleichzeitig davor, wieder allein zu sein. Das ist ein neues Gefühl für mich. Bis jetzt habe ich mich noch nie nach Gesellschaft gesehnt. Ich habe sie immer nur geduldet.
In der Nacht erscheint mir Marion. Sie lächelt ihr süßes, süßes Lächeln und sagt: »Ich glaube an dich.« Im Traum frage ich sie, was sie damit meint, und sie fährt sich – immer noch lächelnd – blitzschnell mit der Handkante über den Hals. Dann kippt ihr Kopf hintenüber und Blut sprudelt aus der freiliegenden Schlagader.
Ich höre jemanden lachen. Einen Mann.
Ich wache auf. Es ist noch vollkommen dunkel und so still, wie es der Rezeptionist versprochen hat.
Ich stelle mich ans Fenster, aber draußen ist nichts zu sehen und nichts zu hören. Es ist, als wäre ich allein auf der Welt. Lange stehe ich nur so da und schaue ins Schwarze, warte auf den ersten Schimmer des Morgengrauens.
13
Vielleicht kommt Dienstag von Dehnen. Gedehnter Tag. Der Dienstag will nicht enden. Er wird zum See, auf dem ich rudere, während das Ufer zurückweicht, sich immer weiter entfernt, je mehr ich mich anstrenge, es zu erreichen.
Dienstag ist eine Fata Morgana. Ein Strudel, der mich in die Tiefe zieht, mich bewusstlos macht und an anderer Stelle wieder ausspuckt. Dienstag ist das Nichts, das mich aufsaugt, mich in meine Atome zertrümmert, mich in die Welt bläst.
Schließlich schlendert Dienstagmittag heran, bleibt ewig lang, verzieht sich endlich, um Dienstagfrühernachmittag Platz zu machen, und ganz langsam wird aus Dienstagfrühernachmittag Dienstagspäternachmittag.
Und dann senkt sich die Dunkelheit herab und raubt mir die Besinnung. Ich bin glücklich, weil ich schlafe, schlafe, schlafe …
Und dann wache ich auf, und es ist erst Dienstagfrüherabend.
Ich mache den Fernseher vom Bett aus an.
Ein Boulevard-Magazin mit einer lüstern aussehenden Moderatorin. Sie ist blond und sie hat Locken. Echte Locken soweit ich das beurteilen kann. Mit vibrierender Stimme berichtet sie über einen prominenten Schauspieler, der seine gleichaltrige Ehefrau mit einer sechsunddreißig Jahre jüngeren Sekretärin betrogen hat.
Ich döse beinahe wieder ein über der Belanglosigkeit des Beitrags, als das Bild wechselt und Karen Beck zeigt – eine lebendige Karen Beck, die in die Kamera strahlt. Ich zuckezusammen wie bei einem Stromschlag, bin wieder hellwach, spüre kalten Schweiß auf der Stirn und an den Handflächen.
Wer mich jetzt sehen würde, würde an meiner Schuld nicht zweifeln.
Die Moderatorin sagt mit Grabesstimme, dass der Mädchenmörder noch immer nicht gefasst und die Furcht in der Bevölkerung von Leyden groß sei.
»Wir haben uns in Leyden umgehört, wie viel Angst der Mann verbreitet, der von den Medien nur noch ›der Schlitzer‹ genannt wird.«
Schnitt. Eine Frau sagt, dass sie Angst um ihre Tochter habe, die so alt sei wie Anne Martenstein und Karen Beck. Eine andere Frau vermutet, hätte sie Töchter im entsprechenden Alter, hätte sie keine ruhige Minute mehr.
Schnitt, wieder ist die Moderatorin im Bild. »Nach wie vor ist der Hauptverdächtige, der Familienvater Lukas Salfeld, auf der Flucht. Die Polizei spricht von mehreren Hundert Hinweisen, doch bislang war offenbar keiner darunter, der die Beamten auf die Spur des mutmaßlichen Täters führte.«
Hinter ihr wird mein Foto eingeblendet.
Ich weiß, was jetzt kommt – »die Polizei bittet um Ihre Mithilfe« – und schalte ab.
Es ist mittlerweile sieben Uhr. Ich habe noch einen Tag, vielleicht zwei. Dann bin ich entweder gerettet oder gefasst oder tot.
Ich schlafe ein. Oder vielleicht schlafe ich auch gar nicht, ich bin mir nicht sicher.
Ich gehe einen langen dunklen Gang entlang, ohne zu wissen, wie ich hierhergekommen bin. Marion ist vor mir, ich weiß das, ohne dass ich sie sehen kann. Ich höre nur ihre hallenden Schritte, ihr leises Keuchen. Ab und zu blitzt ein schwaches Licht auf, dann sehe ich meine Füße und ein Stückchen von dem rauen Betonboden.
Ich laufe und laufe, und
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