Das falsche Urteil - Roman
entdeckte, geschah das anderthalb Stunden später vom Café auf der anderen Straßenseite aus, und er sah ein, dass er sich unnötig Sorgen gemacht hatte.
Denn natürlich war er es. Er sah das schon auf dreißig Meter Entfernung – dieselbe energische sehnige kleine Gestalt; ein wenig gebückt vielleicht, aber nicht sehr. Die Haare farbloser und schütterer. Geheimratsecken. Ein wenig steifere Bewegungen.
Ein wenig grauer, ein wenig älter.
Aber zweifellos der Gesuchte.
Er verließ den Tisch und ging hinaus auf die Straße. Der andere stand jetzt vor der Taxirufsäule. Genau wie erwartet. Stand als dritter in der Schlange und suchte etwas in seinen Hosentaschen. Zigaretten oder Geld oder was auch immer.
Also brauchte er nur zu warten. Zu warten, sich ins Auto zu setzen und dem anderen zu folgen. Es gab auch keinen Grund zur Eile. Er wusste ja, wie es weitergehen würde.
Wusste, dass alles klappen würde.
Für einen kurzen Moment wurde ihm schwindlig, weil sein Puls sich so beschleunigt hatte, aber bald hatte er sich wieder im Griff.
Das Taxi fuhr los. Drehte auf dem Bahnhofsvorplatz, und als es vor dem Café an ihm vorbeifuhr, sah er aus weniger als zwei Metern Entfernung durch das Seitenfenster das bekannte Profil und wusste plötzlich, dass es kein Problem geben würde.
Wirklich nicht das geringste Problem.
IV
5. – 10. Mai 1994
12
»Was glaubst du?«, fragte Rooth.
Münster zuckte mit den Schultern.
»Weiß nicht. Aber bestimmt ist er das. Wir müssen nur auf die Leute von der Spurensicherung warten.«
»Nicht gerade gemütlich hier.«
»Nein, aber passt doch zu der ganzen Geschichte. Sollen wir einen Spaziergang in den Ort machen? Hier können wir ja doch nichts ausrichten. Und wir müssen uns bestimmt ein bisschen mit den Nachbarn unterhalten.«
Rooth nickte, und sie gingen schweigend den kurvenreichen Waldweg hinab. Nach zweihundert Metern öffnete sich die Landschaft, sie sahen Bauernhöfe und einen Steinwurf entfernt die Ortschaft Kaustin. Sie gingen zur Kirche und zur Hauptstraße.
»Wie viele Seelen hier wohl wohnen?«, fragte Rooth.
Münster schaute zum Friedhof hinüber, ging aber davon aus, dass sich die Frage auf die bezog, die noch nicht zur Ruhe gekommen waren.
»Einige hundert, schätze ich. Auf jeden Fall gibt es Läden und eine Schule.«
Er nickte zur Straße hinüber.
»Was meinst du?«, fragte Rooth. »Schauen wir uns mal genauer um?«
»Warum nicht«, meinte Münster. »Wenn der Kaufmann nichts weiß, dann weiß bestimmt auch sonst niemand was.«
Im Laden saßen zwei alte Damen, und Münster musste einsehen, dass sie durchaus nicht vorhatten, sich vertreiben zu lassen. Während Rooth sich in das Angebot an Schokoladenkuchen und Bonbontüten vertiefte, lotste Münster vorsichtig den mageren Kaufmann in einen Nebenraum. Vielleicht war es eine unnötige Vorsichtsmaßnahme; ihr Einzug in der Stadt, mit fünf oder sechs Wagen, die im Konvoi über den ansonsten nicht befahrenen Waldweg bretterten, konnte wohl kaum unbemerkt verlaufen sein. Aber natürlich gab es noch allerlei Gründe, die Sache möglichst geheim zu halten. Die Identität des Toten war schließlich noch nicht bewiesen.
»Mein Name ist Münster«, sagte er und zeigte seinen Dienstausweis.
»Hoorne. Janis Hoorne«, erklärte der Kaufmann mit nervösem Lachen.
Münster beschloss, sofort zur Sache zu kommen.
»Wissen Sie, wem das Haus oben im Wald gehört? Das am Weg liegt, der bei der Kirche abbiegt, meine ich.«
Der Kaufmann nickte stumm.
»Wem denn?«
»Verhaven.«
Ausgedörrter Mund, dachte Münster. Flackernder Blick. Warum ist er so nervös?
»Haben Sie diesen Laden schon lange?«
»Dreißig Jahre. Ich habe ihn von meinem Vater übernommen.«
»Sie kennen die Geschichte?«
Wieder nickte der Kaufmann. Münster ließ einige Sekunden verstreichen.
»Ist etwas passiert?«
»Das wissen wir noch nicht«, erklärte Münster. »Vielleicht. Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen?«
»Nein ... nein, was sollte das auch sein?«
Die Nervosität umgab ihn wie eine Aura, aber natürlich
konnte das seinen guten Grund haben. Münster betrachtete ihn kurz, dann redete er weiter.
»Leopold Verhaven wurde im vergangenen August aus dem Gefängnis entlassen ... am 23., um genau zu sein. Wir glauben, dass er kurz darauf in sein Haus zurückgekehrt ist. Wissen Sie etwas darüber?«
Der Kaufmann zögerte.
»Sie erfahren doch sicher so ungefähr alles, was hier in Kaustin passiert,
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