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Das falsche Urteil - Roman

Das falsche Urteil - Roman

Titel: Das falsche Urteil - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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durch.

    »Unternehmt noch nichts«, sagte Van Veeteren. »Ich komme.«
    Er schwang die Beine über die Bettkante, doch in diesem Moment wurde die Tür aufgerissen und eine unerwartet große Gruppe von grün gekleideten Gestalten trat ins Zimmer.
     
    Der Hörer baumelte an der Leitung.
    »Hallo«, rief Münster. »Bist du noch da, Kommissar?«
    Die farbige Schwester hob den Hörer auf.
    »Der Kommissar ist soeben zur Operation gefahren worden«, erklärte sie freundlich und legte den Hörer auf die Gabel.

III
24. August 1993

11
    Es gab zwei gute Aussichtspunkte und zwei mögliche Züge.
    Der erste würde erst um 12.37 ankommen, aber er hatte schon um elf Uhr Posten bezogen. Die richtige Position war natürlich wichtig; er hatte sich einen Fenstertisch auf der Veranda ausgesucht. Das hatte er schon einige Tage zuvor entschieden, der Ausblick auf den Bahnhofsvorplatz war hervorragend, vor allem auf den Zwischenraum zwischen Taxirufsäule und Kiosk. Er hatte ihn genau im Blick, und alle Eintreffenden mussten früher oder später dort auftauchen.
    Falls sie sich nicht für den verbotenen Weg über die Gleise entschieden, natürlich, aber warum sollte er das tun? Er wohnte in dieser Richtung, hatte also keinen Grund nach Norden zu gehen, und wenn er an diesem Tag überhaupt hier eintreffen würde, dann müsste er dort unten vorbeikommen. Früher oder später, wie gesagt. Vermutlich so gegen Viertel vor eins.
    Oder anderthalb Stunden später.
    Was er danach unternehmen würde, war natürlich noch die Frage, aber vermutlich würde er sich einfach die restlichen fünfzehn Kilometer von einem Taxi fahren lassen. Eigentlich war das auch egal. Wichtig war, dass er kam.
    Danach würden alle Zweifel sich auflösen. Auf irgendeine Weise.
    Er bestellte sein Mittagessen – eine kalte Platte mit Salat, Brot, Butter und Käse, doch während der zwei Stunden,
die er dort saß, rührte er das Essen kaum an. Stattdessen rauchte er an die fünfzehn Zigaretten und blätterte ab und zu eine Seite in dem Buch um, das rechts neben seinem Teller lag – ohne mehr zu lesen als hier und dort eine Zeile, deren Inhalt er nicht erfasste. Als Tarnung war das Buch also ein Misserfolg. Wer immer einen genaueren Blick auf ihn warf, musste erkennen, dass hier etwas nicht stimmte. Das wusste er auch selber, aber weiter gefährlich war das nicht.
    Denn wer in aller Welt sollte ihn genauer unter die Lupe nehmen wollen?
    Niemand, hatte er festgestellt, und zweifellos war das ein absolut korrektes Urteil. Zur Mittagszeit zwischen elf und zwei suchten zwischen zweihundert und zweihundertfünfzig Gäste das Bahnhofsrestaurant auf. Die meisten waren natürlich Stammgäste, aber es gab auch so viel Laufkundschaft, dass sich wohl kaum irgendwer an den absolut unscheinbaren Mann in Cordhosen und graugrünem Pullover erinnern würde, der am Fenster gesessen und keiner Fliege etwas zu Leide getan hatte.
    Vor allem, wenn man den Zeitfaktor bedachte. Er ertappte sich bei einem heimlichen Lachen, als ihm dieser Gedanke kam. Wenn alles nach Plan lief, würde viel Zeit vergehen. Monate. Hoffentlich sogar Jahre. Jede Menge Zeit. Im allerbesten Fall würde die Sache überhaupt nie ans Tageslicht gelangen.
    Das wäre natürlich die optimale Lösung – dass alles geheim bleiben könnte –, aber er sah ja ein, dass es dumm wäre, sich darauf zu verlassen. Besser und klüger war es, auf alle Eventualitäten vorbereitet zu sein. Besser war es, hier in aller Ruhe zu sitzen und nicht aufzufallen. Ein Unbekannter unter den vielen anderen Unbekannten. Von niemandem bemerkt, von allen vergessen.
    Gegen zwölf, als der Zustrom an Gästen den Höhepunkt erreichte, machte der eine oder andere Gast den Versuch,
die andere Hälfte des Tisches oder den zweiten Stuhl an sich zu reißen, aber er wehrte ab. Erklärte freundlich, leider sei der Stuhl besetzt, weil er noch auf jemanden warte.
    Später, während der kritischen Minuten gegen Viertel vor eins, war er angespannt, das ließ sich einfach nicht vermeiden. Als er die ersten Reisenden kommen sah, zog er seinen Stuhl näher ans Fenster und vergaß alle anderen Rücksichten. Er musste sich konzentrieren, die Identifizierung war vielleicht das schwächste Glied in der ganzen Kette. Es war viel Zeit vergangen und wer konnte wissen, wie sehr der andere sich während dieser Jahre verändert hatte? Und er durfte ihn unter keinen Umständen verpassen.
    Er durfte ihn nicht unbemerkt vorübergehen lassen.
     
    Als er ihn dann wirklich

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