Das falsche Urteil - Roman
auf dem Weg dorthin.«
»Gut«, sagte Van Veeteren. »Und dann? Motiv, meine ich.«
Münster räusperte sich. Dachte wieder nach.
»Ja, wenn es keine interne Geschichte ist, dann kann es mit dem alten Kram zusammenhängen.«
»Das kann es, ja«, sagte Van Veeteren und Münster hatte den Eindruck, dass die graubleiche Farbe für einen Moment aus seinem Gesicht wich.
»Wie?«, fragte der Kommissar dann. »Zum Teufel, Polizeidirektor, erzähl mir doch nicht, du hättest darüber noch nicht nachgedacht. Wir wissen das doch schon seit über vierundzwanzig Stunden.«
»Aber sicher sind wir erst seit einem halben Tag«, brachte Münster zu seiner Entschuldigung vor.
Van Veeteren schnaubte.
»Motiv!«, wiederholte er. »Mach schon!«
»Jemand fand die Gefängnisstrafe nicht ausreichend«, sagte Münster.
»Kann sein«, sagte Van Veeteren.
»Jemand, der ihn verabscheut hat. Ein Bekannter dieser Frauen, der auf Rache aus war... es ist ja nicht leicht, sich in ein Gefängnis einzuschleichen und da jemanden umzubringen.«
»Gar nicht leicht«, sagte Van Veeteren. »Wenn man drinnen nicht jemanden anheuert, meine ich. Gibt doch welche,
die sich vermutlich überreden lassen würden. Hast du noch andere Vorschläge?«
Münster zögerte kurz.
»Das ist kein Vorschlag«, sagte er dann.
»Raus damit«, sagte Van Veeteren.
»Nichts spricht dafür.«
»Ich will es aber trotzdem hören.«
Seine Gesichtsfarbe war wieder da. Münster räusperte sich.
»Also gut«, sagte er. »Es besteht auch noch die Möglichkeit, dass er unschuldig war.«
»Wer?«
»Verhaven natürlich.«
»Wirklich?«
»Zumindest bei einem Mord, und dieser hier könnte damit etwas zu tun haben... auf irgendeine Weise.«
Van Veeteren schwieg.
»Aber das sind natürlich pure Spekulationen ...«
Die Tür wurde zwanzig Zentimeter weit geöffnet und eine müde Krankenschwester schaute herein.
»Darf ich daran erinnern, dass die Besuchszeit vorbei ist? Dr. Ratenau möchte sich den Patienten in zwei Minuten ansehen.«
Der Kommissar starrte sie wütend an und sie zog den Kopf ein und schloss die Tür.
»Spekulationen, ja. Findet der Polizeidirektor nicht, dass ich mir hier in der Wohnstatt der Verdammten ein paar Spekulationen gestatten kann?«
»Doch, sicher«, sagte Münster und erhob sich. »Natürlich.«
»Und wenn ...«, sagte Van Veeteren. »Wenn es denn so sein sollte, dass dieser arme Teufel vierundzwanzig Jahre im Gefängnis gesessen hat, für etwas, das er nicht getan hat, dann...«
»Dann?«
»Dann ist das der schlimmste Justizskandal, der sich in diesem Land während der letzten hundert Jahre zugetragen hat, zum Teufel. Nein, der allerschlimmste Skandal aller Zeiten!«
»Aber nichts weist darauf hin«, sagte Münster und zog sich zur Tür zurück.
»Calpurnia«, sagte Van Veeteren.
»Was?«, fragte Münster.
»Cäsars Gattin«, erklärte der Kommissar. »Der Verdacht reicht aus. Und hier gibt es einen«, fügte er hinzu und tippte sich mit dem Zeigefinger an die Stirn.
»Das habe ich schon verstanden«, sagte Münster. »Dann auf Wiedersehen, Kommissar. Ich schaue morgen Nachmittag wieder rein.«
»Ich rufe heute Abend oder morgen früh an und sage, was ich brauche. Richte Hiller aus, dass ich von jetzt ab die Verantwortung für den Fall übernehme.«
»Wird gemacht«, sagte Münster und schlüpfte aus dem Zimmer.
Na ja, dachte er, als er auf den Fahrstuhl wartete. Durch und durch verändert kommt er mir jedenfalls nicht vor.
15
Hauptkriminalassistent Jung schaute auf die Uhr und seufzte. Er war um vier mit Madeleine Hoegstraa in deren Wohnung verabredet und beschloss, in ihrem Wohnviertel am Stadtrand von Groenstadt eine Dreiviertelstunde in einer Bar totzuschlagen, um nicht viel zu früh vor ihrer Haustür zu erscheinen. Die Autofahrt war viel schneller gegangen als erwartet, und natürlich wusste er, dass ihm einfach seine übliche Angst vor dem Zuspätkommen einen Streich gespielt hatte.
Er setzte sich mit einer großen Tasse Schokolade an einen Fenstertisch. Durch halb durchsichtige Gardinen konnte er die diffusen Umrisse der Leute sehen, die draußen über die Straße gingen, und für ein paar Sekunden stellte er sich vor, dass er in einem alten surrealistischen Film saß. Er schüttelte den Kopf. Film? Ja verdammt. Erschöpfung, darum ging es hier. Um schnöde, triste Bullenmüdigkeit.
Er rührte die Tasse um und kritzelte Fragen in seinen Notizblock. Als er ihn sich näher ansah, den Block nämlich, ging
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