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Das falsche Urteil - Roman

Das falsche Urteil - Roman

Titel: Das falsche Urteil - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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trank den Rest seiner Schokolade und erhob sich.
    Ich grüble zu viel, dachte er. Das ist das ganze Problem.
    Hoffentlich bietet sie mir keinen Kamillentee an, dachte er dann noch.
     
    Frau Hoegstraa öffnete die Tür zunächst nur einen Spaltbreit und ließ sich seinen Dienstausweis zeigen, ehe sie die Sicherheitskette abnahm.
    »Verzeihen Sie, ich bin ein wenig nervös«, erklärte sie und öffnete die Tür dann ganz.
    »Man kann nie vorsichtig genug sein«, sagte Jung.
    »Bitte, treten Sie ein.«

    Sie führte ihn in ein mit Möbeln voll gestopftes Wohnzimmer. Wies auf einen der beiden großen Plüschsessel, die vor dem Kamin thronten. Dort stand auch ein ziemlich großer, gedeckter Glastisch – Tassen und Teller, Kuchen, Kekse, Butter, Käse und Marmelade.
    »Ich selber trinke Kamillentee«, sagte sie. »Aus Rücksicht auf meinen Magen. Aber für einen Mann ist das ja wohl nicht das Richtige. Möchten Sie Kaffee oder ein Bier?«
    Jung setzte sich langsam. Er sah ein, dass er diese mollige kleine Frau doch reichlich falsch beurteilt hatte. Dass seine Befürchtungen übertrieben waren. Wie üblich, vielleicht.
    Sie besaß eine gewisse Menschlichkeit, zweifellos. Und Wärme.
    »Ein Bier würde mir gut tun«, beschloss er.
    Vielleicht gab es hier noch mehr, dachte er, als er sie in die Küche gehen sah. Etwas, mit dem er ziemlich vertraut war.
    Ganz einfach ein schlechtes Gewissen?
     
    »Erzählen Sie«, bat er. Der Block mit den Fragen konnte noch warten. Vielleicht würde er ihn gar nicht brauchen.
    »Womit soll ich anfangen?«, fragte sie.
    »Vielleicht mit dem Anfang«, schlug er vor.
    »Ja, das wäre sicher das Beste.«
    Sie holte tief Luft und setzte sich in ihrem Sessel zurecht.
    »Wir hatten nie besonders engen Kontakt«, sagte sie. »Sie wissen sicher schon, dass wir alle Verbindungen aufgegeben hatten, nach diesen... Mordgeschichten, aber Tatsache ist, dass unser Verhältnis auch vorher nicht eng war.«
    Sie nippte an ihrem Tee. Jung bedeckte einen Keks mit einer Scheibe Käse und wartete.
    »Wir waren drei Geschwister. Mein älterer Bruder ist vor zwei Jahren gestorben, ich selber werde im Herbst fünfundsiebzig. Leopold war ein Nachkömmling. Ich war bei seiner Geburt schon siebzehn... und als er in die Schule
kam, wohnten Jacques und ich schon längst nicht mehr zu Hause.«
    Jung nickte.
    »Danach starb meine Mutter. Er war erst acht... und lebte dann allein mit meinem Vater.«
    »In Kaustin?«
    »Ja, mein Vater war Schmied ... aber damals war er natürlich im Krieg. Ein halbes Jahr vor Kriegsende wurde er entlassen und konnte sich um Leo kümmern. Ich habe auch geholfen, aber inzwischen war ich verheiratet und hatte Kinder. Und lebte in der Schweiz, deshalb konnte ich mich nicht so leicht freimachen... und mein Mann brauchte mich auch in seiner Firma.«
    Ja, dachte Jung. Schuldbewusstsein ist vorhanden, immer.
    »Aber Sie wohnten nicht in dem Haus, das Ihr Bruder später hatte... als Kinder, meine ich?«
    »Nein, wir wohnten unten im Ort. Die Schmiede gibt es nicht mehr, aber das Wohnhaus steht noch.«
    Jung nickte.
    »Leopold hat dieses Haus gekauft, als er nach Kaustin zurückgezogen ist. Das war nach dieser Sportgeschichte.«
    »Erzählen Sie«, sagte Jung. »Ich bin ganz Ohr.«
    Sie seufzte.
    »Leo hatte keine schöne Jugend«, sagte sie. »Ich glaube, er war ein sehr einsames Kind. Er hatte Probleme in der Schule, und so viel ich weiß auch mit anderen Kindern, aber ich glaube, darüber können andere Ihnen mehr erzählen. Nach dem siebten Schuljahr ist er von der Schule abgegangen. Hat einige Jahre bei meinem Vater in der Schmiede ausgeholfen und ist dann nach Obern gezogen. Ging einfach los, offenbar war zwischen ihm und meinem Vater etwas vorgefallen, aber Genaueres haben wir nie erfahren. Er war damals fünfzehn oder sechzehn. Ich glaube, das war 1952.«
    »Aber in Obern ging dann alles gut?«
    »Ja, das schon. Er hatte keine Angst vor der Arbeit und damals
gab es Stellen genug. Und er trat in diesen Sportverein ein und fing an zu rennen.«
    »Zu laufen«, korrigierte Jung, der sich durchaus für Sport interessierte. »Er war ein glänzender Läufer, ja, ich bin ja ein wenig zu jung, aber ich habe über ihn gelesen. Mittelstrecken und längere.«
    Frau Hoegstraa nickte.
    »Ja, das waren gute Jahre, damals, um die Mitte der Fünfziger. Alles schien gut zu gehen.«
    »Er hat doch auch mehrere Rekorde aufgestellt, oder? Nationalrekorde, meine ich... auf fünfzehnhundert und dreitausend

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