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Das falsche Urteil - Roman

Das falsche Urteil - Roman

Titel: Das falsche Urteil - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: H kan Nesser
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schwer einzuschätzen.

17
    Van Veeteren griff zu dem Stapel von Fotokopien und sah ihn durch.
    Münster hatte nicht auf der faulen Haut gelegen, das musste er zugeben. Vierzig bis fünfzig Seiten mindestens, aus mehreren Zeitungen, zumeist jedoch aus dem Neuen Blatt und dem Telegraaf. Chronologisch geordnet, anfangs die Sportgeschichte, am Ende die Kommentare zum Urteil im Marlenemord. Genaue Datumsangaben.
    Er fragte sich, ob sich wirklich der Polizeidirektor solche Mühe gegeben hatte, um seine Neugier zu befriedigen, oder ob irgendein emsiger Archivar im Zeitungs- und Zeitschriftenarchiv sich wie ein Hund abgeplagt hatte. Er neigte eigentlich zur letzteren Annahme, aber man konnte natürlich nie genau wissen.

    Münster ist eben Münster, dachte Van Veeteren.
    Er fing mit der Vorgeschichte an. Mit Verhavens glanzvoller, aber kurzer Karriere auf der Aschenbahn. Die konnte nicht länger als zwei Jahre gedauert haben, wenn man genauer nachrechnete. Zwei erfolgreiche Jahre, dann waren die Vorzeichen ausgewechselt worden.
    »Neuer Rekord von Verhaven!«, hieß die Schlagzeile über einem vierspaltigen Artikel vom 20. August 1958, zu dem noch ein kleines, unscharfes Bild von einem jungen Mann gehörte, der in die Kamera schaute und das V-Zeichen machte.
    Sah nicht übermäßig überwältigt aus, fand Van Veeteren. Oder überwältigend. Aber um den zusammengepressten Mund spielte doch ein deutlicher Zug von Ernst und Entschlossenheit und die dunklen Augen schauten voller Überzeugung neuen Triumphen und noch schnelleren Läufen entgegen.
    Er betrachtete das zweiundzwanzigjährige Gesicht einige Zeit lang und fragte sich, ob er daraus wohl etwas lesen könne – ob es möglich sei, diesen starren Gesichtszügen einen Hinweis auf die Zukunft zu entnehmen... die Vorherbestimmung zu entdecken, den Keim des erwachsenen Gewalttäters und Doppelmörders.
    Was natürlich unmöglich war.
    Man wusste, wonach man suchte, und folglich fand man es auch... nein, in diesen Augen lag natürlich nichts anderes außer der üblichen, leicht überheblichen Selbstbeherrschung, entschied Van Veeteren. Die Kraft und Männlichkeit und Gott weiß was andeuten soll und die wir so ungefähr bei allen modernen Helden finden. Und vielleicht auch bei den antiken, wenn man sich das genauer überlegte. Van Veeteren hatte sich nie für Sport begeistern können, und sich einzubilden, zwischen einem griechischen Diskuswerfer und einem russischen Eishockeyverteidiger bestehe irgendein qualitativer Unterschied, war natürlich nur ein weiterer
Beweis für unser ewiges Bedürfnis nach Selbstbetrug, Sport bleibt Sport.
    Stellte er fest und las lieber weiter:
    Dass Leopold Verhaven schon zu unseren stärksten Karten auf der Aschenbahn gehört, ist seit einem ganzen Jahr für die sportinteressierte Öffentlichkeit zur Tatsache geworden. Aber dass dieser ungeheuer talentierte und erst zweiundzwanzig Jahre alte Läufer aus Obern schon in diesem Sommer neue Rekorde aufstellen würde, hatten wohl die wenigsten erwartet.
    Doch da hat er uns also getäuscht, und wie gerne lassen wir uns auf diese Weise täuschen! Auf seine glänzende Leistung im Verheim-Stadion mit dem neuen Landesrekord im Fünfzehnhundertmeterlauf folgte gestern, diesem wunderbaren Sportabend im Willemsroo, eine weitere Steigerung auf nicht weniger als 3.41,5, und anzumerken ist dabei noch, dass Verhaven die letzten sechshundert Meter ganz allein, in einsamer Majestät zurücklegen konnte.
    Niemand im restlichen und durchaus bekannten Startfeld konnte mit ihm Schritt halten, als er nach dem halben Lauf das Tempo anzog. Seine leichten, windschnellen und ausgreifenden Schritte, der scheinbar mühelose Fluss seines gesamten Laufes, sein Rhythmus und sein taktisch meisterhaftes Vorgehen ...
    Van Veeteren überflog den Rest. Versuchte sich selber in diesem fünfunddreißig Jahre zurückliegenden August zu sehen ... aber ihm fiel nur ein, dass damals Semesterferien gewesen sein mussten. Danach hatte er dann das verdammte Studium hingeschmissen und sich an der Polizeischule beworben ..., aber im August hatte er vermutlich bei Kummermann gejobbt, in diesem verstaubten Lager, oder, bestenfalls, eine Ferienwoche bei den Onkeln an der Küste verbracht.

    Egal. Er griff zur nächsten Kopie. Ein knappes Jahr später. Der 18. Mai. Ein Dreispalter im Telegraaf mit einem Bild von der Ziellinie nach einem weiteren Fünfzehnhundertmeterlauf. Das war offenbar seine Lieblingsstrecke – das blaue Band des

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