Das falsche Urteil - Roman
nach.
»Nein, das glaube ich nicht. Nein.«
»Wie lange haben die beiden miteinander gesprochen?«
»Das weiß ich nicht so recht. Fünfzehn bis zwanzig Minuten vielleicht. Jedenfalls nicht die ganze Zeit.«
»Die ganze Zeit?«
»Erlaubt ist eine halbe Stunde.«
»Können Sie sich an etwas Besonderes erinnern, wenn Sie an diesen Besuch zurückdenken? An irgendein Detail?«
Sie dachte zehn Sekunden nach.
»Nein«, sagte sie dann. »An nichts.«
Rooth stand auf und bedankte sich.
Er brauchte eine weitere Stunde, um aus der Anstalt hinausgeschleust zu werden und im eigentlichen Ort Ulmenthal die Ruitens Allee 4 zu finden. Er hielt vor der weißen Villa an. Sprach ein Stoßgebet, stieg aus dem Auto und wanderte über die mit Platten belegte Auffahrt. Dann klingelte er an der Tür.
»Ja?«
»Herr Chervouz?«
»Ja.«
»Mein Name ist Rooth. Kriminalinspektor Rooth. Wir haben vorhin telefoniert.«
»Kommen Sie herein. Oder würden Sie sich lieber in den Garten setzen? Das Wetter ist ja gar nicht schlecht.«
»In den Garten, bitte«, sagte Rooth.
»Es ist so schön, wenn die Kastanien blühen«, sagte Herr Chervouz und goss Bier in zwei hohe Gläser.
»Ja«, sagte Rooth. »Sehr schön.«
Sie tranken.
»Was möchten Sie über Verhaven wissen?«
»Sie hatten damals Dienst, an der Pforte, wie Sie wohl sagen, am 5. Juni 1992. Und an diesem Tag kam Besuch für Verhaven. Das ist zwar zwei Jahre her, aber ich wüsste doch gern, ob Sie sich noch an diese Frau erinnern können?«
Chervouz trank noch einen Schluck.
»Ich habe mir das ja schon seit Ihrem Anruf überlegt. Sie kam mit dem Taxi, glaube ich. War schon ziemlich alt. Und gehbehindert, brauchte Stöcke, einen auf jeden Fall. Aber Himmel, vielleicht bilde ich mir das auch ein. Vielleicht habe ich sie ganz einfach verwechselt.«
»Warum können Sie sich überhaupt daran erinnern?«
»Weil sie zu ihm wollte, natürlich.«
»Aha«, sagte Rooth. »Hatten Sie sie schon einmal gesehen?«
»Nein... nein, das glaube ich nicht.«
»Waren Sie noch da, als sie wieder gefahren ist?«
»Nein, das muss ein Kollege gewesen sein... ich kann mich jedenfalls nicht daran erinnern.«
»Würden Sie sie wiedererkennen?«
»Nein, auf keinen Fall.«
Einige Sekunden verstrichen. Dann kam die Frage, und die unterdrückte Neugier war dabei nicht zu überhören.
»Was hat er angestellt?«
»Nichts«, sagte Rooth. »Er ist tot.«
Er verzehrte im Bahnhofsrestaurant eine mäßig aufregende Mahlzeit. Als er sich dann ins Auto setzte, war bereits die Dämmerung heraufgezogen.
Da hatte er heute wirklich viel ausgerichtet, dachte er. Wirklich beeindruckend.
Und als er sich dann überlegte, welche Steuersummen bisher in diese zweifelhaften Ermittlungen geflossen waren und auch noch weiter fließen würden, merkte er, dass er fast ein wenig empört darüber war. Vor allem, wenn man bedachte, was Leopold Verhaven die Staatskasse bereits gekostet hatte. Als er noch lebte, genauer gesagt.
Er hatte zwei Frauen ermordet. War in zwei fast identischen Prozessen durch die Mangel gedreht und verurteilt worden, und hatte fast ein Vierteljahrhundert im Gefängnis gesessen. Und jetzt hatte jemand den Schlussstrich unter ihn gezogen.
Warum sollte die Polizei das nicht auch tun?
Den Schlussstrich ziehen. Einen Punkt setzen und so tun, als sei niemand je über die verstümmelte Leiche im Teppich gestolpert. Wer hatte eigentlich etwas davon, dass sie so viel Energie in die Aufgabe setzten, einen Mörder zu finden, der aus unerfindlichen Gründen beschlossen hatte, dieses einsame Verbrecherleben zu beenden?
Wen zum Henker interessierte es, dass Leopold Verhaven tot war?
Gab es so einen Menschen?
Außer dem, der ihn umgebracht hatte, natürlich.
Rooth hatte da seine Zweifel.
Aber irgendwo tief in seinem Hinterkopf hallten jetzt einige verdrängte Worte wider, die aus den Vorschriften und Richtlinien für die Arbeit der Kriminalpolizei stammten, wenn er sich hier nicht irrte. Er konnte sich an den genauen Wortlaut nicht erinnern, aber ihr Inhalt ließ sich ja auch durch Van Veeterens Formulierung ausdrücken:
Wenn der Mörder sich in Timbuktu herumtreibt, dann fahren wir mit dem erstbesten Taxi hin. Wir sind doch kein Scheiß profitorientiertes Unternehmen!
»Wo liegt Timbuktu eigentlich?«, hatte jemand gefragt.
»Das weiß der Taxifahrer«, hatte Van Veeteren geantwortet.
Besser, wir halten uns an diese Regel, dachte Rooth. Die Konsequenzen wären sonst ziemlich
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