Das falsche Urteil - Roman
Laufsports, hieß es nicht so? Den Oberkörper vorgebeugt, um so schnell wie möglich den Wollfaden zu durchbrechen, die halblangen Haare flatterten im Wind, der Mund stand offen, die Augen starrten ins Leere ...
»Verhaven auf dem Weg zum Europarekord?«, lautete diesmal die Überschrift. Van Veeteren las:
3.40,4! Das ist Verhavens neuer Rekord auf fünfzehnhundert Metern, aufgestellt gestern Abend bei einem glanzvollen Lauf bei dem internationalen Turnier am Künderplatz. Bereits kurz nach der Achthundertmetermarke verabschiedete sich unser neuer Mittelstreckenkönig von seiner Begleitung und erreichte nach zwei großartigen Solorunden eine Zeit, die bisher nur vom Franzosen Jazy und vom Ungarn Roszavölgyi unterboten worden ist. Verhaven hat das sechstbeste Ergebnis aller Zeiten erzielt und es kann kein Zweifel daran bestehen, dass der ungeheuer begabte Dreiundzwanzigjährige aus Obern eine unserer stärksten Trumpfkarten für die Olympischen Spiele des kommenden Jahres in Rom sein wird. Zumindest in der Leichtathletik, wo unser Land ansonsten hinter den Briten, Franzosen und Amerikanern weit zurückzuliegen scheint. Bei den gestrigen Veranstaltungen wurden nicht weniger als ...
Mai 59, dachte Van Veeteren und legte die Kopie beiseite. Noch drei Monate, bis die Blase dann geplatzt ist.
Er nahm sich den nächsten Artikel vor, und nun war es schon so weit. Der Skandal war zur Tatsache geworden und hatte abermals die Titelseiten erreicht:
»Verhaven – Betrüger!«, lautete die Schlagzeile über dem
Vierspalter, darunter befand sich ein undeutliches Bild, das bei genauerem Hinsehen einen Mann darstellen mochte, der auf einer Trage fortgetragen wurde. Unter ziemlich hektischen Umständen, wie es aussah.
Van Veeteren las den empörten Artikel über einen Fünftausendmeterlauf im August 1959, bei dem Verhaven ganz klar in Führung gelegen hatte und nur noch zwei Runden vom Ziel – und einem winkenden Europarekord – entfernt gewesen war, bis er dann plötzlich unmittelbar hinter der Südkurve im Richterstadion von Maardam zusammengebrochen war.
Er sah sich das Datum an, ja, der Artikel war zwei Tage nach dem Rennen erschienen. Als alles schon feststand.
Als die Sache mit dem Doping und dem Schwarzgeld bereits ans Tageslicht gelangt war. Als das Märchen ein Ende hatte.
Verhaven – Betrüger.
War das die Vorgeschichte von Verhaven, dem Mörder?, überlegte Van Veeteren.
Und von Verhaven, dem Doppelmörder?
Bestand eine Verbindung, ein Zusammenhang, bei dem sich eins aus dem anderen ergab? Nicht automatisch natürlich, sondern als eine Art Ursache und Wirkung? Lag der Mörder schon wie ein Keim, wie ein Embryo, im Betrüger versteckt? Und konnte man solche Fragen überhaupt stellen?
Wieder überkam ihn die Müdigkeit. Er ordnete die leicht zerknitterten Blätter und stopfte sie zurück in den Umschlag.
Was hatten diese Überlegungen denn überhaupt für einen Sinn, fragte er sich. Warum mühte sich sein Gehirn mit diesen Mutmaßungen ab? Ob er das nun wollte oder nicht. Konnte er sich denn wirklich nicht mit vernünftigen Dingen befassen?
Wollte er sich nur einreden, dass er auf dem richtigen Weg war?
Für einen Moment hörte er den Tauben zu, die irgendwo vor dem Fenster herumgurrten. Seine Gedanken wanderten davon und einige Minuten lang dachte er zerstreut über Friedenssymbole nach, über den Zerfall Europas und den doppelbödigen Nationalismus, dann wandte er sich wieder der Tagesordnung zu. Denn – und darum ging es: Wie sah es mit diesem Verdacht aus?
Mit dieser vagen Idee, die ihm keine Ruhe ließ.
Wie einfach und leichtfertig wäre es doch für den distanzierten Beobachter, zum selben neunmalklugen Schluss zu gelangen? Betrüger – Mörder. Diese vermeintlichen Brücken über eingebildete Abgründe zu bauen. Zusammenhänge zu suchen, wo es keine gab oder zu geben brauchte. Wer machte sich schon nähere Gedanken über Verhavens Vergehen? Hatte es wirklich, damals in den unschuldigen fünfziger Jahren, die Bedeutung gehabt, den diese Götter und Gurus des Sports ihm beigemessen hatten? Oder in den frühen sechziger Jahren? Das konnte er nicht glauben. Und der Kerl war doch wohl nicht schneller gerannt, weil er Geld angenommen hatte? Amphetamin und was auch immer hatten ihn sicher angespornt, aber ein vergleichbarer Fall würde in unseren Tagen doch nie im Leben eine lebenslange Sperre mit sich bringen.
Er wusste es nicht. Er kannte sich nicht aus, aber Rooth oder Heinemann würden
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