Das falsche Urteil - Roman
das sicher klären können.
Und auf jeden Fall blieb die Frage: Wie viel hatte Verhaven, der Betrüger, in die Waagschale geworfen, als er den Schritt zu Verhaven, dem Mörder, vollzogen hatte?
In den Augen der anderen, wohlgemerkt. Der Presse. Der Allgemeinheit. Der Polizei, des Gerichtswesens, der Jury.
Den Augen des Verurteilenden.
Den Augen Richter Heidelbluums?
Diese Frage musste er sich genauer vornehmen, das war klar.
Er faltete über der schmerzenden Operationsnaht die
Hände, schloss die Augen und wollte die Frage bis auf weiteres seinen Träumen überlassen.
18
Nach einem gewissen Maß an Lobbyarbeit war es deBries gelungen, Kriminalassistentin Ewa Moreno als Arbeitspartnerin zugeteilt zu bekommen. Zumindest für die nächsten Tage der Feldarbeit, und als sie an einem späten Nachmittag über die schöne und kurvenreiche Uferstraße nach Kaustin fuhren, hatte er nicht den Eindruck, dass dieses Arrangement ihr missfiel.
Und sie hätte es ja wirklich schlechter treffen können. So viel Selbstbewusstsein musste doch wohl erlaubt sein. DeBries hielt vor der Schule, und sie blieben eine Zeit lang sitzen und verglichen die mit der Hand gezeichnete Karte mit der Wirklichkeit. »Zuerst Gellnacht«, schlug Moreno vor und nickte in Fahrtrichtung. »Die wohnt da vorn.«
»Euer Wunsch sei mir Befehl«, sagte deBries und fuhr an.
Irmgard Gellnacht hatte in der Gartenlaube hinter dem großen Holzhaus gedeckt. Sie winkte sie zur gelben Hollywoodschaukel und nahm selber in einem der beiden alten Liegestühle Platz.
»Schöne Abende um diese Jahreszeit«, sagte sie. »Man muss versuchen, so viel wie möglich im Freien zu sein.«
»Der Frühsommer ist die schönste Zeit«, sagte Ewa Moreno. »Die vielen Blüten.«
»Haben Sie auch einen Garten?«, fragte Frau Gellnacht.
»Nein, leider nicht. Aber ich hoffe, das wird sich irgendwann ändern.«
DeBries räusperte sich diskret.
»Ja, entschuldigen Sie«, sagte Frau Gellnacht. »Sie wollten natürlich nicht darüber sprechen. Bitte, greifen Sie zu.«
»Danke«, sagte Ewa Moreno. »Ist das Ihr eigener Rhabarber in diesem Kuchen?«
»Mit anderen Worten, Sie waren gleichaltrig«, sagte deBries.
»Nicht ganz. Ich bin ein Jahr älter... Jahrgang 35. Leopold war 36. Aber wir gingen doch in dieselbe Klasse, damals waren immer drei Schuljahre hier im selben Raum ... ich glaube, das ist noch immer so ... also kann ich mich an ihn erinnern. Fünf Jahre in derselben Klasse vergisst man nicht so leicht.«
»Was hatten Sie für einen Eindruck von ihm?«
»Einsam«, sagte Irmgard Gellnacht ohne zu zögern. »Einsam und verschlossen. Warum interessiert Sie das so sehr? Stimmt es, dass er tot ist?«
Morgen steht es bestimmt in allen Zeitungen, dachte deBries. »Wir möchten das lieber ungesagt lassen, Frau Gellnacht«, erklärte er und legte sich einen Finger an die Lippen. »Und wir wären Ihnen dankbar, wenn Sie unser Plauderstündchen für sich behalten könnten.«
Er fand, er habe sich geradeso vage bedrohlich angehört, wie es seine Absicht gewesen war.
»Aber er muss doch Freunde gehabt haben?«, fragte Moreno.
Sie dachte nach.
»Nein, eigentlich glaube ich das nicht. Doch, vielleicht in den ersten Jahren. Er war ein wenig mit Pieter Wolenz zusammen, wenn ich mich nicht irre, aber die sind dann ja weggezogen... nach Linzhuisen. Ich glaube, danach hatte er keinen Freund mehr.«
»Wurde er schikaniert oder so?«, fragte Moreno. »Oder gemobbt, wie es heute heißt.«
Sie dachte wieder nach.
»Nein«, sagte sie. »Eigentlich nicht. Wir ... alle... hatten eine Art Respekt vor ihm. Niemand wollte es mit ihm verderben... er konnte sehr wütend werden, das weiß ich
noch. Verbarg hinter seinem schweigsamen und mürrischen Äußeren ein wildes Temperament.«
»Und wie äußerte sich das?«
»Verzeihung?«
»Dieses Temperament. Was hat er gemacht?«
»Ach, ich weiß nicht so recht«, sagte sie langsam. »Einige hatten wohl ein wenig Angst vor ihm... es gab durchaus Prügeleien, und er war stark, richtig stark, obwohl er ja nicht besonders groß oder kräftig war.«
»Denken Sie jetzt an eine besondere Episode?«
»Nein... oder doch. Ich weiß noch, dass er einmal einen Jungen aus dem Fenster geworfen hat, als er wütend wurde.«
»Aus dem Fenster?«
»Ja, aber das war nicht so gefährlich, wie es sich anhört. Es war aus dem Erdgeschoss, deshalb ist nichts passiert.«
»Ich verstehe.«
»Aber draußen stand ein Fahrradgestell, deshalb hat es wohl
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